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Wie schmeckt ein Kaffee am Mittelpunkt der Welt? Stark und schaumig. Denn so mag ihn Joan und so brüht er ihn schon seit 35 Jahren für seine Gäste in der Bar "Sabina". Die ist nur einen Steinwurf vom Glockenturm der Kirche Santa Maria in Sineu entfernt, jenem Ort, unter dem einer Legende nach die Achse der Erde liegen soll. "Tonterías!", ruft Joan belustigt, und zieht jeden einzelnen Buchstaben übertrieben in die Länge, "Blödsinn. Keine Ahnung, wer sich sowas ausgedacht hat. Der Mittelpunkt der Welt! Sineu!" Aber dann hält er plötzlich inne, lässt die Kaffeetassen auf der Anrichte Kaffeetassen sein und kommt mit seinem Gesicht so dicht heran, dass man tief in seinen Augen den Stolz aufblitzen sieht: "Eines stimmt aber wirklich und das ist nicht minder wichtig: Sineu ist der Mittelpunkt der Insel!" Dann folgt eine bedeutungsvolle Pause.

Im Groben mag das stimmen - mal davon abgesehen, dass ein Wirt in Costitx oder in Jornets wohl dasselbe von seinem Ort behaupten dürfte. Denn der Streit um den Inselmittelpunkt ist fast so alt wie die Orte im Inselinneren selbst. Doch der Lokalpatriot in Joan scheint gerade erst so recht in Fahrt zu kommen: "Eigentlich müsste es nicht heißen: 'Alle Wege führen nach Rom'", wieder eine dieser Pausen, "sondern 'alle Wege führen nach Sineu' - denn zu keinem anderen Dorf der Insel führen so viele Straßen." So. Joan schaut zufrieden in die Runde. Das musste wohl mal wieder gesagt werden. Doch ein Tor wäre, wer das so ausgeprägte lokale Selbstbewusstsein als Hochmut deuten würde. Es liegt den Sineuern einfach im Blut: Schließlich war das Dorf einst Balearenhauptstadt - von 1276 bis 1311 regierte König Jaume II. in Sineu. Und der bis heute noch viel gepriesene Mittwochsmarkt des Ortes machte ihn für viele Jahrhunderte zum mallorquinischen Handelszentrum.

Auch in der Bar "Sabina" herrscht an diesem Morgen, kein Mittwoch, sondern ein Freitag, turbulentes Treiben, das an Marktflair erinnert. Alle Tische sind besetzt, an der Theke drängen sich einige beim Steh-Kaffee, hypnotisieren stierend ihr Spiegelbild, das ihnen müde von der Thekenwand entgegenblickt. Ständig kommen neue Lieferungen mit der Sackkarre zur Tür hereingefahren. Kisten mit San Miguel. Kakaoflaschen. Milchtüten. Dann kommt der Gasmann, der Lotterieverkäufer, die Postbotin.

Joan und seine Frau Maria Victoria wirbeln, in der Bar summt und brummt es wie in einem Bienenstock. Dessen unangefochtene Königin in diesen Morgenstunden ist pausbäckig, erst ein paar Monate alt und schaut mit Kulleraugen in die Welt: Keiner der Gäste scheint an der auf dem Arm ihres Opas durch die Bar geschaukelten Mercedes vorbeizukommen, ohne ihr nicht wenigstens in die roten Backen zu kneifen oder sonst ein liebes Wort zu widmen. "Hier geht es immer familiär zu, weil sich auch alle kennen, es kommen immer dieselben Leute", sagt Schwiegersohn Biel erklärend, der 28-Jährige hat gerade Urlaub, geht Joan und Maria in den Stoßzeiten von sechs bis elf und halb eins bis 16 Uhr zur Hand. Allerdings sei Sineu in den letzten sieben, acht Jahren stark gewachsen, viele Hinzugezogene seien ansässig geworden. "Wer nach Sineu kommt, der bleibt auch", fängt Joan ein erneutes Loblied auf seinen Geburtsort an. Und warum? "Na, weil hier die besten Leute leben!", ergänzt Biel, und die beiden Männer lachen.

Dass die Bar "Sabina" ein Nadelöhr ist, durch deren schmalen Gang immer wieder die Gleichen fast rituell mit einem ersten Kaffee in den neuen Tag stolpern, liegt in der Natur der Sache: Bars wie die "Sabina" gibt es in Sineu nicht viele. "Eigentlich fällt mir gar keine andere ein", sagt Joan und reibt sich nachdenklich das Kinn, "dafür gibt es hier sicher um die 25 Restaurants. Aber wir haben mit Absicht kein Essen - jetzt mal von Pa amb oli abgesehen - in einer echten Bar wird nur getrunken." Er schenkt dem Gast vor ihm am Tresen gleich einen extra großen Schluck Cognac in den Kaffee, grinst dabei schelmisch, irgendwie verwegen, fast flirtend. Eine dicke Goldkette blitzt unter seinem Hemdkragen auf. Wer nicht genau wüsste, dass Joan ein waschechter Sineuer ist, könnte ihn irgendwie glatt für einen Andalusier halten.

So temperamentvoll und aufgedreht er, so still ist seine Frau Maria. Sie werkelt emsig, setzt den Thekenbereich alle Viertelstunde mit einem neuen Schwung dampfenden Geschirrs aus dem Spüler in Nebel, aber hält sich sonst lieber im Hintergrund, auch über die Geschichte der Bar lässt sie sich kaum etwas entlocken. Dabei ist die Bar ihr Leben: Gerade mal 14 Jahre alt war sie, als ihre Mutter starb und sie fortan mit der Hilfe einer Tante allein den Laden stemmen musste. Bis Joan kam und sie heiratete.

Neben ein paar blassen Abbildungen von "Pa amb oli"-Variationen hängen zwei gerahmte alte Fotos an der Wand, Bilder, die davon zeugen, wie es in dem cremefarbenen Gewölberaum mit den dunklen Deckenbalken einst aussah: Damals führte die Theke noch mitten durch den Raum, vor allem Männer kamen hierher, spielten Karten, kippten sich gerne mal einen zu viel hinter die Binde. Vor acht Jahren renovierten Joan und Maria die Bar, die da noch mehr Taverne war als Café, verpassten ihr ein freundlicheres Gesicht, verbannten die Spielkarten - nur von den mit braunem Plastik bezogenen Metallstühlen konnten sie sich scheinbar nicht trennen.

"Mittlerweile kommen alle hierher", erzählt Martí Valldaram zwischen ein paar Schluck Kaffee am Tresen, "ob Mann oder Frau, jung oder alt." Ein Rundumblick gibt ihm recht. Die Gäste sind so bunt gemischt wie die Farbsprenkel auf den betröpfelten Arbeitsanzügen einiger Maler. Sie sitzen gleich neben einer schicken Dame im Nerzmantel, die die tiefrot geschminkten Lippen zur Tasse führt. Und was führt Martí in die Bar? Er ist der Juwelier vom Schmuckgeschäft gegenüber. "Die Theke hier ist schon seit vier Jahren sowas wie mein Büro." Er lacht. Wenn er keine Lust mehr auf seinen Laden habe, halte er den Eingang bei einem entspannten Kaffee von hier aus im Auge. Und das komme schon so zweimal am Tag vor. Dann müsste Martí doch auch sicher der Spezialist für Ratsch und Tratsch aus dem Dorf sein? "Oh nein", wehrt er ab. "Richtige Aufreger gibt es hier eh nicht, wir sind ein ganz zufriedenes Volk." Und Joan und Biel setzen gleich noch eins obenauf: "Wir sind eigentlich die Nettesten von der ganzen Insel." Gelächter unter Männern. Doch der Scherz hat einen wahren Kern: Die Ortsansässigen gelten als, für mallorquinische Verhältnisse, auffallend offene Menschen. Bei denen es einiges braucht, um sie aus der Fassung zu bringen oder zu verärgern.

Ein solcher Ärger ist der Kirchplatz direkt vor der Bar. Ein idyllisches Plätzchen - wären da nicht die vielen parkenden Autos. "Ach, die Diskussionen darüber ziehen sich schon lange", sagt Martí, "schön sind sie nicht, aber andererseits ist es natürlich auch gut, dass man nah an den Ortskern heranfahren kann. Es gibt halt die eine und die andere Seite", sagt er diplomatisch. Und was meint Joan dazu? Der hält es ähnlich. Diplomatie scheint wohl ein weiteres Erbe aus der alten Herrscherepoche zu sein. "Ach, ich halt mich da raus. Ich höre eh nicht hin, wenn sich die Leute unterhalten. Und wenn sie mir doch was anvertrauen, dann schweige ich wie ein Grab. An mir ist ein Beichtvater verloren gegangen ..." Aber eines muss er dann doch noch verraten - woher die Bar ihren Namen hat. "Sabina", sagt Joan, "war eine seltene Fischart, die man in Portocristo fangen konnte, dem Hafen von Manacor, wo meine Schwiegermutter herkam." Heute sei die Art wohl ausgestorben, zumindest habe er vergebens nach einer Abbildung des Fisches gesucht, um sie als Logo anzubringen. Das wird heute von einem Wacholder geziert, im Spanischen Savina genannt. Biel macht große Augen, scheinbar hört er die Geschichte vom Namen der Bar das erste Mal. "Aber der Baum schreibt sich doch mit v und nicht mit b!", sagt er mit ungläubigem Blick. "Ach", meint Joan, "b oder v, das ist doch einerlei. Hauptsache, der Baum sieht schön aus."