Jeden Mittwoch zwischen 10.30 und 14 Uhr steht sie am
Ausgabestand vom „Club Elsa” in der Calle Solo 33 in Palma und
verteilt Lebensmittel, Kleidung, Decken oder was der Mensch, der
vor ihr steht, sonst zum Überleben braucht. Armut ist für Blanca
Ungo de Velasco alles andere als ein Begriff, den man – wie
„Unterschicht” oder „Prekariat” – definieren oder auch diskutieren
kann. Armut ist für die Spanierin, die sich seit über 20 Jahren im
Wohltätigkeitsverein „Club Elsa” engagiert, tägliche Realität.
Alleinerziehende Mütter fragten meist nach Lebensmitteln oder Geld
für Schulbücher, ältere Männer ohne Anhang nach Kleidung.
Ausnahmen, sagt sie, gäbe es immer, aber: „Zu uns kommt keiner, den
die Not nicht absolut dazu zwingt.”
Armut, findet ihre deutsche Kollegin Iris Llinas (62), die nicht
weniger beherzt an der Hilfsfront auf Mallorca mitarbeitet, sei
eben ein relativer Begriff. Natürlich habe sie die
„Unterschicht”-Debatte in Deutschland verfolgt und bezweifle nicht,
dass sich die sozialen Probleme auch dort permanent verschärften.
Kurzer Rückblick: Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur
sozialen Situation in Deutschland hat in der vergangenen Woche eine
neue Diskussion über ein bekanntes Phänomen entfacht. Seit Jahren
wächst die Zahl (langzeit)arbeitsloser Menschen mit geringer
Bildung, damit auch die Armut. Rund acht Prozent der Bevölkerung,
vor allem in Ostdeutschland, empfinden ihre Lebenssituation als
ausgesprochen „prekär”, heißt: Fünf bis sechs Millionen Menschen
haben sich aufgegeben. Daraufhin tauchte der Schreckensbegriff vom
„abgehängten Prekariat” in den Medien auf, ebenso die Frage: Darf
man überhaupt von einer „Unterschicht” sprechen oder grenzt man
Menschen damit schon sprachlich aus?
Neu in der ganzen Diskussion ist im Grunde nur die Aufdeckung
der „ratlos verwalteten Normalität der Resignation”, wie auch „Die
Zeit” konstatierte. Die zentrale Gefahr, da sind sich Politiker
aller Couleur einig, besteht in einem weiteren Auseinanderbrechen
der Gesellschaft: Einem Drittel geht es gut, die – bislang
stabilisierende, jetzt verunsicherte – Mittelschicht hat Angst vor
dem Abstieg, ein Drittel fühlt sich „abgehängt”. Hinsehen statt
wegschauen – so lautet nun die Forderung an Politik, Wirtschaft und
jeden Einzelnen, um die „Angstparalyse” zu überwinden und sich den
„lösbaren” Problemen mit vereinter Kraft zu widmen.
Welche das sind und wie sie anzugehen sind, darum wird weiter
gerungen. Konsens indes herrscht inzwischen darüber, dass sich
staatlich organisierte Solidarität nicht länger auf die finanzielle
Unterstützung der Schwachen beschränken darf. Eine Schlüsselrolle
kommt dem Bildungsbegriff als „Investitionsfaktor” zu, um die
Chancengleichheit für Kinder bereits vor Schulbeginn zu sichern –
damit sie nicht die Langzeitarbeitslosen von morgen werden.
Auch auf Mallorca gehören Kinder immer häufiger zu den Opfern
der Armut. „Zu den Kindern und Frauen kommen aber zunehmend auch
akademische Kreise, die unverschuldet in soziale Not geraten”, hat
der evangelische Pfarrer der Balearen, Klaus-Peter Weinhold,
festgestellt. Das Problem der Armut habe auch auf der Insel
erkennbar zugenommen. Es käme gehäuft vor, dass er Residenten eine
Rückkehr nach Deutschland nahelegen müsse, um dort – wenigstens
partiell – vom sozialen Netz aufgefangen zu werden. „Wir bekommen
öfter auch Anfragen aus Deutschland von Menschen, die der
Arbeitslosigkeit dort entkommen und hier etwas aufbauen möchten”,
erzählt er. „Ich rate jedem, sich sehr genau zu überlegen, ob er
das auch schaffen kann.” Sprachbarrieren, hohe Immobilienpreise und
Lebenshaltungskosten, relativ geringe Löhne und ein fehlendes
soziales Netz: Das alles sei der Preis fürs „Inselleben”. „Und das
wird von vielen unterschätzt”, so Klaus-Peter Weinhold. Auch wenn
er bezweifelt, dass Armut auf Mallorca zum „Thema Nummer eins”
avancieren werde: „Die Sonnenseiten der Insel werden immer
sichtbarer von sozialen Problemen überschattet. Wir müssen
versuchen, möglichst realistisch und ehrlich damit umzugehen.”
Dass diese Realität oftmals bitter ist, weiß José Antonio
Rodríguez Benayas nur zu gut: „In letzter Zeit kommen viele, denen
wir den Rückflug nach Deutschland bezahlen, auch Familien mit
Kindern”, so der Koordinator vom Deutschen Sozial– und
Kulturverein. Umgekehrt kämen immer mehr (arbeitslose) junge
Menschen aus Deutschland, um „hier ein bisschen Glück zu finden” –
die Mehrzahl von ihnen würde enttäuscht. „Europa ist für die jungen
Leute nicht gutgegangen”, resümiert der engagierte Helfer, der
viele Jahre in Deutschland gelebt und gearbeitet hat. „Es wurde
viel gearbeitet, aber zu viel ausgegeben und zu wenig übrig
gelassen.” Viele der Alten hätten allein durch die Euro-Umstellung
immense Verluste gemacht, Miet– und Energiepreise wie überhaupt die
Lebenshaltungskosten hätten rapide angezogen. Wer auf Mallorca
durch Arbeitsplatzverlust, Krankheit oder Tod des Partners
unverschuldet in Not gerät, den fange kein Netz auf. Hier sei
Europa gefordert: „Eine entsprechende europaweite Stelle müsste das
nötige Geld in dem Land kassieren, in dem wir Steuern bezahlt und
unsere Rente eingereicht haben – so ist das Gesetz.”
Auch die deutsche Konsulin Karin Köller hält es für angebracht,
die zunehmende, doch wenig transparente Armut auf Mallorca auf eine
politische Ebene zu hieven: „Wir bekommen nur die Spitze des
Eisberges mit. Wer zu uns kommt, hat alle Mittel ausgeschöpft.”
Dabei seien die Möglichkeiten des Konsulats begrenzt: „Unser
einziges Instrumentarium besteht darin, den Menschen zu helfen,
wieder Fuß in der deutschen Sozialgesetzgebung zu fassen.” Um den
Handlungsspielraum zu erweitern, sei gerade ein Sozialreferent der
Deutschen Botschaft aus Madrid informell in Palma gewesen, um mit
Vertretern der Kirchen, Sozialund Kulturverbände neue Konzepte zu
entwickeln. Wichtig sei auch, dass Menschen in Not sich öffneten.
Karin Köller: „Das ist schwer, vor allem, wenn man nicht sicher
ist, dass einem geholfen wird. Aber nur wer den Mut dazu aufbringt,
hat eine Chance.”
Mittwoch, 25. Oktober: In der Calle Solo herrscht Hochbetrieb.
Heute gehen viele Spenden für den Flohmarkt ein, die sortiert
werden müssen. Am Schreibtisch notiert Blanca Ungo de Velasco die
Angaben einer jungen Frau, die um Hilfe bittet. „Natürlich”, sagt
sie, „bin ich oft traurig angesichts dieser Schicksale. Man muss
einfach immer wieder anfangen.”
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