MM: Wie oft waren Sie schon auf Mallorca?
Spiegel: Noch nie. Das ist mein erster Urlaub auf dieser Insel. Ich
gehöre zu der ganz seltenen Spezie Mensch, die noch nie auf
Mallorca war.
MM: Warum nicht?
Spiegel: Mallorca hatte für mich stets, wie es in den Medien
dargestellt wurde, ein sehr schlechtes Image. Gott sei Dank haben
meine Frau und ich uns nun entschlossen, für eine Woche nach
Mallorca zu fliegen. Wir haben ein sehr schönes Hotel gefunden, und
ich muss sagen, mein Bild von Mallorca hat sich sehr geändert. Ich
habe viel gesehen, die Insel ist wirklich wunderschön.
MM: Sie kommen wieder?
Spiegel: Sicher, so bald ich kann, um mich noch mehr umzusehen. ich
finde es traumhaft, und wenn wir den Wetterbericht von zu Hause
hören, dann fühlen wir uns hier noch wohler.
MM: Was hat Ihnen am besten gefallen?
Spiegel: Das kann ich gar nicht sagen – ich habe so viel Schönes
gesehen, ich könnte keine Hitliste aufstellen. Mallorca hat einen
überwältigenden Eindruck auf mich gemacht, und ich bin sehr froh,
dass mich meine Frau zu diesem Urlaub überredet hat.
MM: Sicher verfolgt Sie Ihre Arbeit in den Urlaub, sicher
auch die eine oder andere Sorge. Was ist derzeit für den
Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland die größte
Sorge?
Spiegel: Dass durch die deutschen Bevölkerung noch kein Ruck
gegangen ist, dass die Menschen noch nicht sagen: ,,Wir wollen
nicht, dass es wieder einen Nationalismus, einen Antisemitismus
gibt, wir müssen den Rechtsradikalismus energisch bekämpfen.”
MM: Haben sich die Deutschen nicht gebessert?
Spiegel: Doch. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Mehrheit der
Deutschen diese Form des Hasses nicht will. Aber man spürt nicht,
dass die Menschen ihn nicht wollen.
MM: Können Sie das erläutern?
Spiegel: Ein Beispiel. Anfang der 70er Jahre litten wir alle unter
dem Links-Terrorismus. Damals spürte man eine totale Ablehnung
dieses Terrors seitens der Bevölkerung. Diese totale Ablehnung des
Rechtsradikalismus, der Straftaten gegen Minderheiten - Ausländer,
Schwule, Lesben, Juden – die spürt man nicht. Die Menschen sagen
zwar: ,,Wir lehnen das ab”, aber dann kommt das schreckliche
,,Aber”.
MM:,,Aber”?
Spiegel: ,,Aber” ist es denn nicht richtig, dass unsere Frauen
wegen der vielen Ausländer in Deutschland abends nicht mehr
ungehindert durch die Städte gehen können? ,,Aber” ist es denn
nicht richtig, dass die Autodiebstahlsrate so hoch ist, dass wir
unter Bandenkriegen leiden, und, und, und ... Dieses schreckliche
Aber spürt man doch, hört man doch.
MM: Das macht Ihnen Angst?
Spiegel: Es kommt noch etwas hinzu, was mich sehr besorgt macht. Da
ist Antisemitismus nicht nur in diesen Kreisen, wie ich ihn eben
geschildert habe, natürlich vor allen Dingen in rechtsradikalen
Kreisen, sondern auch in den sogenannten elitären Kreisen.
MM: Wen meinen Sie?
Spiegel: Einen Teil der gesellschaftlichen Elite. In Gesprächen und
Diskussionen spüre und höre ich antisemitische Klischees. Und nun
kommt etwas, was mich besonders nachdenklich macht. Ich spreche mit
diesen Leuten, zu diesen Leuten, und merke: Sie hören mir überhaupt
nicht zu. Sie wollen gar keine andere Meinung haben oder gelten
lassen.
MM: Um wen handelt es sich?
Spiegel: Ich hüte mich vor Verallgemeinerungen. Aber es handelt
sich vor allem um Menschen über 50 Jahre. Außerdem stelle ich fest,
dass ich in vielen Diskussionen allein gelassen werde – dass es
niemanden gibt, der aufsteht und sagt: ,,Ich bin nicht der Meinung
dieses Herrn oder dieser Dame.” Das gibt mir zu denken.
MM: Also gibt es in Deutschland nach wie vor mehr oder
weniger latenten Antisemitismus?
Spiegel: Ich bin fest davon überzeugt. Und ich glaube
wissenschaftlichen Erhebungen, wonach 15 Prozent der deutschen
Be-völkerung zumindest latent antisemitisch eingestellt sind.
MM: Sind es nur die Älteren?
Spiegel: Ich erlebe das auch bei Jungen. Ich erleben diese
Klischees auch in Schulen, aber dort ist es anders: Dort merke ich,
dass die jungen Leute mir zuhören, dass andere, Gleichaltrige
aufstehen und sagen: ,,Hör mal zu, wir sind nicht deiner Meinung.”
Das macht mich froh, das stimmt mich sehr positiv.
MM: Warum nimmt die Zahl der neonazistischen Auftritte und
Übergriffe zu?
Spiegel: Ich frage mich oft, woran liegt das, was muss man dagegen
tun? Nehmen wir als Beispiel einen Arzt. Wenn man zum Arzt sagt:
,,Ich habe das und das, ich leide da- und darunter.” Dann nimmt der
Arzt auch nicht aus einer Schublade irgendein Medikament oder
schüttet den Patienten mit Medikamenten zu in der Hoffnung, dass
dies schon irgendwie helfen wird. Zuerst muss er doch untersuchen,
woran leidet dieser Mensch? Woher kommt diese Krankheit?
MM: Woher kommt der Antisemitismus?
Spiegel:Besonders bei jungen Leuten stellen wir fest, dass die
Ursachen im Elternhaus und in der Schule liegen – und auch darin,
dass in Deutschland in den letzten Jahrzehnten viel zu wenig Geld
in die Jugendarbeit gesteckt worden ist, dass es viel zu wenig
sinnvolle Jugendfreizeitstätten gibt. Besonders im Osten
Deutschlands, wo der Rechtsradikalismus besonders in jungen Kreisen
immer wieder Zuspruch findet.
MM: Die Bundesregierung hat reagiert.
Spiegel: Ich begrüße besonders, dass Bundesjugendministerin
Bergmann jetzt ein 56-Millionen-Programm aufgelegt hat, um gerade
Jugendfreizeitstätten wieder mit vernünftigen Mitteln auszustatten.
Denn es sind viele, viele Jugendliche geradezu in die Arme von
rechtsradikalen Organisationen getrieben worden. Jugendliche, die
keine Arbeit haben, no future, null bock – und plötzlich kommen
Organisationen, die ihnen etwas zu bieten haben, und landen
dort.
MM: Vor allem die Schulen haben versagt?
Spiegel: Vor allem die Jugendlichen in Ostdeutschland haben in der
Schule nicht gelernt, was im Dritten Reich geschah, wie es zum
Holocaust kommen konnte. Und dann sind sie sehr schnell anfällig
für falsche Behauptungen und können denen gar nicht widersprechen.
Wenn ihnen gesagt wird: Es hat Auschwitz nie gegeben, es gab nicht
so viele Tote”, dann wissen sie nicht zu reagieren. In den Schulen
ist viel versäumt worden.
MM: Beispielsweise?
Spiegel: Zwar steht diese Thematik auf dem Lehrplan und wird
abgearbeitet – aber mit vielen Fehlern und nicht in der richtigen
Dosierung.
MM: Zuviel oder zu wenig Holocaust?
Spiegel: Man kann auch junge Menschen überfordern. Da wird in den
Medien zu sogenannten runden Daten – 60 Jahre nach der
Kristallnacht, 50 Jahre nach Auschwitz – tagtäglich, wochenlang
berichtet. Und dann kommt der Lehrer in der Schule und sagt:
,,Heute nehmen wir den Holocaust durch.” Dann schalten die Schüler
ab. Es darf nicht zuviel, und es darf nicht zu wenig sein.
MM: Sind die Lehrer überfordert?
Spiegel: Einer der Hauptgründe, warum die richtige Sicht noch nicht
in den Köpfen der jungen Menschen gelandet ist: Die Lehrer sind
zwar engagiert, sie sind interessiert, aber sie sind nicht auf
dieses Thema vorbereitet, sie haben nicht die richtigen
didaktischen Formulierungen. Ich habe immer wieder an die Politiker
und Behörden appelliert, dass es Fortbildungsseminare für Lehrer
geben muss. Das ist sehr wichtig.
MM: Damit sind wir bei der Politik. Ist ein NPD-Verbot der
richtige Weg, oder wird der Rechtsradikalismus nach einem Verbot
nicht viel gefährlicher aus dem Untergrund operieren?
Spiegel: Ich möchte zum Antrag auf NPD-Verbot – ja oder nein –
nicht Stellung nehmen. Der Antrag beim Bundesverfassungsgericht ist
gestellt worden, und wir warten das Urteil ab. Natürlich wäre es
katastrophal, wenn der Antrag abgeschmettert, praktisch also der
NPD ein Persilschein ausgestellt würde. Darüber möchte ich lieber
nicht spekulieren. Immerhin waren es nicht irgendwelche Juristen,
die den Antrag gestellt haben, sondern Bundestag, Bundesrat und
Bundesregierung. Die haben sich schon Gedanken gemacht und sich
entsprechend juristisch beraten lassen.
MM: Dämmt ein NPD-Verbot den Rechtsradikalismus ein?
Spiegel: Für mich machen Überlegungen wenig Sinn, ob es nach einem
Verbot weniger Rechtsradikalismus in Deutschland geben wird. Viel
wichtiger ist eine andere Frage: Wenn das NPD-Verbot durch ist,
sind die bisherigen Wähler der NPD ja nicht aus der Welt. Wie
werden die sich bei künftigen Wahlen verhalten? Das Verbot einer
Partei ist ein legitimes Mittel in der Demokratie – wenn es auch
das letzte Mittel sein sollte. Das beste Verbot einer Partei ist
immer noch das durch den Wähler in der Wahlkabine – so wie wir es
Gott sei Dank gerade in Baden-Württemberg erlebt haben. Da hat der
Wähler den Republikanern ganz eindeutig ein Verbot erteilt.
MM: Wie bekämpft man den Rechtsradikalismus am
nachhaltigsten?
Spiegel: Das Verbot mag auch ein Weg sein. Mindestens so wichtig
aber ist eine Vielfalt von Aktionen, Bündnissen, Demonstrationen.
Alles zusammen hilft, den Rechtsradikalismus zu besiegen. Und
wichtig ist ein weiteres: Wenn wir, hoffentlich in absehbarer Zeit,
Zahlen bekommen, wonach die rechtsradikalen Straftaten wesentlich
zurückgehen, dann darf die Politik nicht wieder, wie Anfang der
90er Jahre, die Hände in den Schoß legen und sagen: So, jetzt ist
keine Gefahr mehr. Wir haben es geschafft. Dann nämlich werden wir
erleben, dass der Rechtsradikalismus in Wellen wieder
hochkommt.
MM: Sind Juden in Deutschland heute sicher?
Spiegel: Grundsätzlich ja. Die Tatsache, dass heute fast 90.000
Juden in jüdischen Gemeinden leben, ist ein Beweis dafür, dass die
Juden Vertrauen haben zu Deutschland, zur deutschen Regierung, zur
deutschen Bevölkerung. Sonst wären sie nicht in Deutschland und und
würden auch nicht in Deutschland bleiben. Wir sind immerhin die
drittgrößte jüdische Gemeinschaft in Westeuropa, nach Frankreich
und England.
MM: Es gab aber vor nicht allzu langer Zeit wieder Übergriffe
gegen jüdische Einrichtungen.
Spiegel: Die Übergriffe im letzten Jahr, die Sie ansprechen,
schüren natürlich die Angst. Stellen Sie sich vor, dass ältere
Juden, die den Holocaust überlebt haben, die durch die Nazis viele
Angehörige verloren haben, plötzlich wieder so etwas sehen. Dann
kommen sie zu mir und fragen mich: ,,Müssen wir schon wieder
gehen?” Was antwortet man diesen Leuten, wenn man
verantwortungsbewusst ist?
MM: Aber Deutschland und die Deutschen haben sich doch
geändert.
Spiegel: Natürlich kann man das Deutschland von heute nicht mit dem
Deutschland der Weimarer Zeit und nicht mit dem Deutschland von
1933 bis 1945 vergleichen. Und ich bin davon überzeugt, dass so
etwas wie in der Hitlerzeit nie wieder passieren wird – dafür gibt
es heute eben die Vielfalt der Medien, die schon aufpassen. Diese
Kontrolle durch die Medien gab es im Nationalsozialismus ja nicht:
Hitler hat Göbbels beauftragt, sofort die Presse gleichzuschalten,
und das ist dem auch relativ schnell gelungen. So etwas würde heute
nicht mehr gelingen.
MM: Was sollen die Demokraten und ihre Me-dien tun?
Spiegel: Aufpassen und den Anfängen wehren. Eigentlich sind es sind
es schon keine Anfänge mehr. Es gibt Zigtausende, die sich mit dem
Nationalsozialismus beschäftigen und uns erklären wollen, dass die
Nationalsozialisten vieles viel besser gemacht haben als heute die
demokratischen Parteien. Dem muss man entgegentreten, denen muss
man die rote Karte zeigen. Nicht im Interesse von Minderheiten,
nicht im Interesse von Juden, von Ausländern, sondern im Interesse
aller Deutschen. Denn wenn diese Fanatiker in Deutschland die
Oberhand gewinnen sollten, dann werden nicht nur ein paar, sondern
viele Deutsche Deutschland verlassen müssen. Wieviele Deutsche
leben jetzt hier auf der Insel?
MM: Etwa 60.000.
Spiegel: Dann werden es zig Millionen sein, die Deutschland
verlassen müssen, dann kann kein vernünftiger, demokratisch
denkender Mensch mehr in Deutschland sein. Die Rechtsradikalen
richten sich gegen unsere Demokratie, gegen das, was wir seit über
fünfzig Jahren in Deutschland aufgebaut haben. Diese
freiheitlichste Grundordnung, die Deutschland je hatte, dürfen wir
uns von ein paar tausend Verbrechern, Verrückten und Fanatikern
nicht kaputt machen lassen. Man muss ihnen die rote Karte zeigen
und ihnen sagen: ,,Bis hierher und keinen Schritt weiter.”
Möglichst auch zurück.
MM: Das ist Ihre Forderung an Berlin?
Spiegel: Ja.
MM: Wie wird Deutschland in zehn Jahren aussehen? Wird es den
Rechtsradikalismus im heutigen Umfang noch geben? Wird er
zurückgehen, oder wird er sich ausweiten?
Spiegel: Ich hoffe natürlich nicht, dass er sich ausweitet. Ich
gehöre zwar zum Volk der Propheten, aber ich bin kein Prophet. Ich
hoffe in aller Interesse, dass die Politik – und ich habe wirklich
gute Hinweise dafür, dass die Politik sich des Ernstes der
Situation durchaus bewusst ist – auch Konsequenzen zieht. Wie
gesagt: Der Schlüssel liegt im Erziehungsbereich. Wenn dort die
Zeit verpasst wird, ist sie später nicht mehr aufzuholen.
MM: Wie sie im Osten Deutschlands verpasst worden
ist.
Spiegel: Richtig. Aber Vorsicht: Wir im Westen Deutschlands neigen
dazu, dieses Thema auf den Osten abzuschieben. Das ist falsch.
Vergessen wir nicht: Die Keimzelle des Rechtsradikalismus und des
Neonazismus ist im Westen Deutschlands. Aber man muss auch den
Menschen im Osten Deutschlands helfen, zum Beispiel durch sinnvolle
Jugend-Freitzeit-Einrichtungen.
MM: Kennen Sie die Situation in Ostdeutschland
persönlich?
Spiegel: Ich war einige Male in Ost-Deutschland. Ich habe dort mit
vielen Menschen gesprochen, die den Rechtsradikalismus genauso wie
wir ablehnen. Ich bin sehr gegen die Behauptung, der
Rechtsradikalismus in Deutschland spiele sich nur im Osten ab. Er
spielt sich dort in einem erschreckenden Maße ab, aber es gibt ihn
nicht nur in Ost-Deutschland.
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