Lange galt Sahra Wagenknecht (geb. 1969 in Jena) als prägende Stimme der deutschen Linken. Inzwischen zählt die Bundestagsabgeordnete zu den umstrittensten Figuren im Parlament. Mit ihren provokanten Thesen und abweichenden Positionen entfremdete sie sich zunehmend von ihrer Partei Die Linke, bis sie im Dezember 2023 mit einem Paukenschlag ihren Austritt erklärte. Unverzüglich gründete sie ihre eigene politische Bewegung: das „Bündnis Sahra Wagenknecht” (BSW).
Mit diesem Bündnis tritt die streitbare Politikerin am 9. Juni 2024 erstmals zur Europawahl an. Zuvor wollte Wagenknecht als Referentin am Wirtschaftsforum „Neu denken” teilnehmen, das vom 23. bis 25. Mai in Palma stattfindet. Jetzt sagte sie ihr Kommen nach Mallorca ab. Der Grund seien "externe, unerwartete Terminverschiebungen", teilte ihr Sprecher mit. An ihrer Stelle werde der Schatzmeister des BSW, Ralph Suikat, an der Konferenz teilnehmen. MM hatte mit der ebenso umstrittenen wie gefragten Politikerin im Vorfeld ihres geplanten Besuches ein Interview geführt zu diversen Themenbereichen wie Mallorca-Tourismus, Lösungen zur Wohnungsnot, steigende Reisepreise und die Kriegsgefahr in der Welt. Wagenknechts Antworten werden hier ungeachtet der nunmehr erfolgten Absage ihrer Teilnahme an dem Forum unverändert veröffentlicht.
Mallorca Magazin: Sie werden in zwei Wochen am Wirtschaftsforum „Neu denken“ auf Mallorca teilnehmen (Wagenknecht sagte ihr Kommen Teilnahme am 10. Mai ab). Welches Interesse haben Sie an der Veranstaltung und welche Botschaft wollen Sie den Teilnehmern vermitteln?
Sahra Wagenknecht: Mich interessiert, wie man in den Chefetagen von Wirtschaft und Gesellschaft die aktuelle Politik beurteilt. Es ist mir ein Rätsel, warum man in Deutschland und Europa nicht mehr unternimmt, um das schreckliche Blutvergießen in der Ukraine zu beenden. Was erhofft man sich von einer Fortsetzung dieses Stellvertreterkrieges, der ja nicht nur die Ukraine verwüstet, sondern ganz Europa erheblichen Schaden zufügt? Wieso hält man an Sanktionen fest, die ihr Ziel ganz offensichtlich verfehlen? Wie sieht man die wirtschaftliche Perspektive Deutschlands? Meine zentrale Botschaft an die Teilnehmer ist, dass wir gerade als exportstarkes und rohstoffarmes Land Frieden in Europa und freien Handel mit anderen Ländern brauchen, um unseren Wohlstand zu sichern.
MM: Die Zeitschrift „Der Spiegel“ titulierte die Insel vor wenigen Jahren als das „bessere Deutschland“, können Sie das nachvollziehen?
Wagenknecht: Der Titel war wohl eher ironisch gemeint. Ich kann verstehen, dass es immer mehr Deutsche nach Mallorca zieht, aber der Reiz der Insel ginge verloren, wenn sie ihren Charakter verlieren und allzu „deutsch” werden würde.
MM: Sie kommen bekanntlich seit Jahren zum Radfahren nach Mallorca. Kennen Sie die Insel darüber hinaus? Was macht Mallorca für Sie besonders, mal abgesehen von Wetter und Sonnenschein?
Wagenknecht: Schöne Natur, nette Menschen, eine gute Küche und dazu noch tolle Radwege – das haben nicht viele Inseln zu bieten. Mallorca ist in der Tat ein Paradies für Radfahrer. Auf der Insel hat man offenbar in gute Verkehrswege und eine gute Infrastruktur investiert, während man sie in Deutschland verkommen lässt.
MM: Früher war Mallorca als Putzfraueninsel bekannt. Das heißt, auch die arbeitende Bevölkerung in Deutschland konnte sich Urlaub am Mittelmeer leisten. Ist das noch so aus Ihrer Sicht? Und sollte das so bleiben?
Wagenknecht: Leider ist das nicht mehr so. Hotelübernachtungen, Restaurantbesuche, Flugtickets – all dies wird für immer mehr Menschen unbezahlbar. Laut Statistischem Bundesamt sind die Preise für Pauschalreisen seit Februar 2021 um über 23 Prozent gestiegen. Einer Umfrage zufolge muss sich jeder zweite Deutsche aus finanziellen Gründen beim Reisen einschränken, fast jeder vierte muss in diesem Jahr ganz aufs Reisen verzichten. Ich finde das ungerecht. Gerade wer hart arbeitet, sollte sich auch mal jenseits der eigenen vier Wände erholen können.
MM: Mallorca ist immer mehr die Insel der Reichen, vor allem aufgrund ausländischer Immobilienkäufer. Wohnungsnot und soziale Ausgrenzung für Einheimische sind die Folge. Wie könnte eine politische Lösung aussehen?
Wagenknecht: Ich denke, dass man die Kontrolle über den Boden- und Immobilienmarkt nicht aus der Hand geben darf. In Teilen Spaniens hat man während der letzten Finanzkrise gesehen, wohin die unkontrollierte Spekulation führen kann: Als die Immobilienblase platzte, blieben halbfertige Geisterstädte zurück. Ich plädiere für starke Planungsämter, die unter Einbezug der Bevölkerung entscheiden, welche Flächen für welche Zwecke genutzt werden, und die dabei auf eine gute soziale Mischung achten und einer Verdrängung Einheimischer entgegenwirken.
MM: Dänemark verbietet den Kauf von Immobilien an Ausländer, wenn diese weniger als die Hälfte des Jahres in Dänemark leben. Würden Sie ein solches Modell europaweit befürworten?
Wagenknecht: Über die richtige Wohnungs- und Bodenpolitik sollte man vor Ort entscheiden, nicht im fernen Brüssel. Man kann doch nicht alles über einen Kamm scheren. Wo der Bedarf an Wohnraum groß ist, kann man aus meiner Sicht nicht dulden, dass Immobilien ein Großteil des Jahres leer stehen. Bei ausgeprägter Wohnungsnot sollten Kommunen auch Mieten deckeln und den Verkauf von Immobilien an ausländische Investoren untersagen können. Gerade im Mittelmeerraum gibt es aber auch viele Touristenziele, wo ein gewisser Leerstand im Winter beziehungsweise in der Nebensaison normal ist.
MM: Sie werden mit Ihrer Partei erstmals bei den Europawahlen Anfang Juni antreten. Werden Sie möglicherweise auf der Insel um deutsche Wählerstimmen werben?
Wagenknecht: Ich habe keine Wahlplakate im Gepäck, aber natürlich freue ich mich über jede Stimme für das Bündnis Sahra Wagenknecht BSW am
9. Juni. Man kann uns auch bequem von Mallorca aus unterstützen, indem man uns über diese Homepage ein Plakat für die Europawahlen spendiert.Wer sich erst ein besseres Bild über uns machen will, dem empfehle ich, den Youtubekanal des Bündnis Sahra Wagenknecht zu abonnieren.
MM: Wie sehen Ihre drei prinzipiellen Wahlzusagen aus?
Wagenknecht: Wir fordern mehr Diplomatie und eine Rückkehr zur Entspannungspolitik, wir stehen für eine Politik der wirtschaftlichen Vernunft und sozialen Gerechtigkeit sowie für Demokratie und Meinungsfreiheit statt übergriffiger Bürokratie und Bevormundung. Unsere Kandidaten für das EU-Parlament haben ihre hohe Kompetenz etwa im Kampf gegen Finanzkriminalität und Lobbyismus, für mehr Bürgernähe, für Frieden und Diplomatie oder für eine sachliche Aufarbeitung der Corona-Pandemie unter Beweis gestellt. Es geht bei den Europawahlen aber nicht allein um die EU, es geht auch darum, dass der Ampel in Deutschland die rote Karte gezeigt wird.
MM: Der Krieg in der Ukraine zieht sich weiter hin, die Fronten verhärten sich. Steht Europa vor den Toren zu einem dritten Weltkrieg?
Wagenknecht: Ich sehe tatsächlich die Gefahr einer Eskalation bis hin zu einem Weltkrieg. Die Ukraine verfügt kaum noch über Soldaten, die kämpfen wollen oder kämpfen können. Deshalb fordern einige EU-Staaten bereits die Entsendung von NATO-Bodentruppen. Ich finde solche Diskussionen verantwortungslos. Damit würde man eine neue und hochgefährliche Eskalationsstufe zünden.
MM: Wie sieht Ihre eigene Friedenslösung aus?
Wagenknecht: Man sollte versuchen, an die Ergebnisse der Friedensverhandlungen anzuknüpfen, die schon im Frühjahr 2022 in Istanbul geführt wurden. Das Verhandlungsergebnis sah einen Rückzug der russischen Truppen und im Gegenzug eine Neutralität der Ukraine vor. Was die Zukunft der Krim und des Donbas angeht, so wäre mein Vorschlag, dass irgendwann die Bevölkerung vor Ort in einem Referendum unter internationaler Aufsicht darüber entscheidet, wohin sie gehören will. Eine vergleichbare Volksabstimmung gab es schließlich auch im Saarland nach dem Zweiten Weltkrieg.
MM: Sie gelten in weiten Teilen der Bevölkerung als Sympathsantin von Russland oder sogar als sogenannte "Putin-Versteherin". Wie bewerten Sie den russischen Präsidenten und seinen Angriffskrieg auf die Ukraine?
Wagenknecht: Ich verurteile den russischen Angriff auf die Ukraine. Jeder Krieg ist ein Verbrechen. Umso mehr muss getan werden, diesen Krieg möglichst bald zu beenden, und das geht nur durch Verhandlungen, um die man sich endlich bemühen muss.
MM: Sind Frauen bessere Politiker als Männer?
Wagenknecht: Nein. Natürlich wäre es gut, wenn sich noch mehr Frauen politisch engagieren würden. Die wachsende Armut gerade von Rentnerinnen oder Alleinerziehenden zeigt ja, dass die Interessen vieler Frauen von der Politik oft mit Füßen getreten werden. Aber gute Politik hat mit dem Geschlecht nichts zu tun. Ich finde, wir sollten uns keine Außenministerin leisten, die nichts von Diplomatie versteht – und auch keine Chefin der EU-Kommission, die in Betrugs- und Korruptionsskandale verwickelt ist, und gegen die inzwischen sogar die Europäische Staatsanwaltschaft ermittelt.
Die Fragen stellten Andreas John und Alexander Sepasgosarian.
Hochkarätige Teilnehmer aus Wirtschaft und Politik
Unter dem Namen „Neu denken” findet vom 24. bis 25. Mai die siebte Ausgabe des Wirtschaftsforums auf Mallorca statt, mit teils hochkarätigen Vertretern aus der deutschen Wirtschaft- und Politszene. Hauptinitiatoren des zweitägigen Events, das erneut in Palmas Schlosshotel Son Vida stattfindet, sind die ehemalige deutsche TV-Moderatorin Sabine Christiansen sowie der CEO der auf Mallorca seit vielen Jahren ansässigen Steuerkanzlei Plattes Group, Willi Plattes. Die Veranstaltung findet hinter geschlossenen Türen statt, die Teilnehmer haben dafür die Gelegenheit, die Referenten vor Ort in privater Atmosphäre kennenzulernen. Die Teilnahmegebühr beträgt 2650 Euro plus Mehrwertsteuer. Für Begleiter steht ein sogenanntes Social Paket für 600 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer zur Verfügung. Info und Anmeldung unter www.neu-denken.net
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