Gestern, auf dem Weg zu meiner Praxis, überholte mich auf der Autobahn ein Motorradfahrer durch ein waghalsiges Manöver. Dabei trug er, wohl den hohen Temperaturen geschuldet, nur eine kurze Hose und ein T-Shirt. Keine Handschuhe und auch sonst nichts weiter, um sich im Falle eines Unfalls davor zu bewahren, sich die Haut bis auf die Knochen abzuschaben. Vielleicht hatte er einen sehr wichtigen Termin, der keinen Aufschub duldete, möglicherweise musste er ein Leben retten. Wahrscheinlicher ist aber, dass er einfach nicht darüber nachgedacht hat, wie fragil und empfindlich unser Körper ist. Würde man errechnen, wie viele Sekunden früher er durch diese gefährliche Fahrweise an seinem Ziel angekommen sein mag, käme man vermutlich zu dem Schluss, dass eine Nutzen-Risiko-Rechnung nicht sehr günstig ausgefallen wäre.
Themenwechsel: Können Sie sich vorstellen, wie es wäre, wenn jemand Sie zwingen würde, sich mehrmals täglich eine Gasmaske aufzusetzen und giftige, krebserregende Stoffe einzuatmen? Können Sie nicht? Ich auch nicht, und doch habe ich das über 15 Jahre freiwillig und eigenverantwortlich gemacht, und zwar indem ich jeden Tag zwischen 20 und 30 Zigaretten geraucht habe. Ein Wahnsinn, was ich mir und meiner Lunge, meinem ganzen System, damit angetan habe. Natürlich wusste ich, dass Rauchen nicht gesund ist, dass es die Lunge schädigen kann, dass die Haut schneller altert, dass die gesamte Sauerstoffversorgung des Körpers herabgesetzt wird. Aber ich habe es in Kauf und nicht weiter ernst genommen. Gerade so, als wäre ausgerechnet mein Körper immun gegen Nikotin, Teer und all die anderen Inhaltsstoffe, die wir beim Rauchen inhalieren.
Auch die Zufuhr des gesellschaftlich sehr anerkannten Nervengiftes Alkohol schädigt schon in erschreckend geringer Menge unseren Körper und oft auch unsere Seele. Auf der Internetseite der Betty Ford-Klinik kann man dazu lesen, dass „Alkohol die Blut-Hirn-Schranke überwindet und nervenschädigend und krebserregend wirkt. Nach Alkoholkonsum wird an der Außenhaut der Nervenzellen die Reiz- und Signalübertragung verändert. Bei einem regelmäßigen und hohen Alkoholkonsum gerät der gesamte Neurotransmitter-Stoffwechsel aus dem Gleichgewicht.” Dies kann unter anderem auch zur Entstehung von Krankheiten wie Demenz oder psychischen Störungen wie Depressionen beitragen. Dass auch Embryos durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft großen Schaden erleiden können, in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung, ist mittlerweile auch kein Geheimnis mehr. All das hält uns aber wenig bis gar nicht davon ab, mehr oder weniger regelmäßig (zumindest bei Feierlichkeiten oder zum Feierabend) ein „Gläschen” zu trinken, sich ein oder zwei „Bierchen” zu genehmigen oder sich ein „Schnäpschen” nach dem Essen zur Verdauung zu gönnen. Nur so am Rande bemerkt, enthält bereits ein achtel Glas Wein zehn bis zwölf Gramm reinen Alkohol, und schon bei einer Konzentration von mehr als drei Gramm Alkohol pro Liter Blut sinkt die Körpertemperatur stark ab, was zu einer Unterkühlung führen kann. Die dadurch verminderte Atmung kann zu einem Atemstillstand führen.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich möchte hier weder den Moralapostel spielen, noch mit erhobenem Zeigefinger darauf hinweisen, wie fahrlässig wir mit unserem Leben umgehen. Tatsächlich frage ich mich nur, warum uns unser Leben scheinbar so wenig schützenswert erscheint. Was kann wichtiger sein, als diesen einen Körper, den wir haben, zu hegen und pflegen und sorgsam zu behandeln?
Stattdessen hungern wir uns auf Größe Zero und lassen uns optimieren, indem wir uns ein weiteres Nervengift injizieren lassen, damit wir faltenfrei lächeln können. Oder wir tunen unsere Oberweite und Hinterteile, lassen Bauch- und Hüftfett absaugen, in unangenehmen Prozeduren, und uns sogar die Genitalien „verschönern“. Oder wir lassen Tinte unter unsere Haut spritzen und tragen Ringe in allen möglichen oder unmöglichen Hautfalten. Einige von uns lassen sich regelrecht braten in der mallorquinischen Sonne, bis sie gar sind oder oftmals sogar schon richtig verbrannt. Und statt daraus etwas zu lernen für den nächsten Tag, sieht man sie dann schon bald wieder mit knallroten Gesichtern, Schultern, Nacken und Dekolletés auf dem Weg zum Strand oder an den Pool, um die nächste Röststufe zu erreichen.
So verrückt es vielleicht klingen mag: Jeder von uns hat für all diese Verhaltensweisen gute Gründe, sei es, um sich besser zu fühlen, einzigartiger und besonderer. Sei es, dass wir uns gängigen Schönheitsidealen anpassen oder eben genau gegenläufig aussehen wollen. Manche wollen durch Alkohol, Drogen oder Tabletten den Alltag besser bewältigen oder vergessen können. Für einige von uns ist Fahren mit hoher Geschwindigkeit mit dem Motorrad oder Auto eine letzte, kleine Möglichkeit, sich frei zu fühlen. Es gibt sicher noch unzählige weitere Gründe, sich entsprechend zu verhalten. So sind wir munter dabei, unsere Ressource „Körper“ zu verheizen, bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus. Oft werden wir erst dann wach, wenn es (fast) zu spät ist, wenn der Körper sich nicht mehr anders zu helfen weiß, als mit Symptomen zu reagieren, um uns auf seine Not aufmerksam zu machen. An dieser Stelle möchte ich Ihnen verraten, dass NSSV „Nicht suizidales, selbstverletzendes Verhalten” bedeutet. In der Psychologie meint man damit zum Beispiel das Ritzen mit Messern oder Rasierklingen – nicht um sich das Leben zu nehmen, sondern „nur, um sich zu verletzten. Davon verspricht man sich beispielsweise, sich wieder zu spüren, psychischen Druck abzubauen oder (in einem bestimmten Alter) einfach dazuzugehören. Im Grunde gehören viele der beschriebenen Verhaltensweisen in den Bereich NSSV, wir verletzten uns sehenden Auges, aber wirklich Schaden anrichten oder gar unser Leben bedrohen, wollen wir dabei nicht. Warum? Und was lässt sich dagegen tun?
Es wäre schon hilfreich, das Maß der Dinge im Blick zu behalten. Und die eingeschliffenen Verhaltensweisen ab und an zu hinterfragen und auf die aktuelle Bedürfnislage hin zu überprüfen. Vielleicht gibt es Alternativen für besonders gefährliches oder gefährdendes Tun, vielleicht ist es möglich, die Menge der zugeführten Stoffe zu reduzieren oder einfach wieder bewusster damit umzugehen. Vielleicht gibt es mittlerweile auch Alternativen, die uns ein ähnliches Wohlgefühl bescheren. Ich glaube, es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie wir an der einen oder anderen Stelle besser, gesünder, liebevoller mit uns umgehen können. Schließlich sind wir der Mensch, der uns am nächsten ist und der die vollen Auswirkungen unseres Handelns auszubaden hat. In diesem Sinne.
Talia Christa Oberbacher ist Hypnose-Therapeutin und Coach in der Palma Clinic.
E-Mail: coaching@palma-clinic.com
Web: palma-clinic.com
(aus MM 27/2022)
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