Mallorca Magazin: Herr Jürgens, wo geht es nach Mallorca hin, nach Berlin oder Wien?
Stefan Jürgens: Jetzt geht es nach Wien.
MM: Was bedeutet für Sie Europa?
Jürgens: Mein Sohn und meine jüngste Tochter sind in Spanien aufgewachsen, ihre Mutter ist Italienerin, meine zweite Tochter ist Französin, ich lebe in Wien und Berlin, meine Freundin ist Steierin. Also, wer denkt europäisch, wenn nicht ich? (lacht)
MM: Und wie halten sie es mit der Nationalität?
Jürgens: Ich bewege mich nicht in den gedanklichen Grenzen von Nationalität. In der Welt, in der wir leben, und massiv auch in Europa, hat das eigentlich immer nur zu ganz schrecklichen Auswüchsen geführt. Das heißt nicht, dass ich meine Identität verleugne oder meine deutsche Mentalität vernachlässige. Ich habe ja meine Eigenarten, die ich sehr gut bemerke, wenn ich im österreichischen Ausland bin. Aber ich muss kein Schild mit Schwarz-Rot-Gold auf der Stirn tragen, um mich in meiner Identität sicher zu fühlen.
MM: Sie haben Wien erst durch Ihre Dreharbeiten als starke Stadt entdeckt.
Jürgens: Wien ist ein Traum. Bevor ich zur "Soko" nach Österreich kam, war ich das letzte Mal 20 Jahre davor in Wien. Damals kam mir die Stadt sehr dunkel vor und erinnerte mich noch sehr an den Balkan. Als dann der Ruf nach Wien kam, lag das so gar nicht auf meiner inneren Reiseroute. Aber Soko Paris gibt es leider nicht (lacht).
MM: Was reizte Sie an der "Soko", dass sie trotzdem nach Wien gingen?
Jürgens: Als der Ruf kam, habe ich gesagt: Ich gucke mir das mal an. Also landete ich in Wien - und war fasziniert. Die Stadt hatte sich in den 20 Jahren herausgeputzt, dass es mir den Atem nahm. Dann spürte ich eine große Bereitschaft der Produktion und der Redaktion, das bisherige Konzept der "Soko Wien" zu überdenken und auch ein paar Wünsche von mir hineinbauen zu lassen. Es war damals die Rede davon, dass es wahrscheinlich bei einer Staffel bliebe, und das passte. Eine Staffel bedeutete ein halbes Jahr, das war eine Zeit, die ich mich binden konnte. Bis heute entscheide ich übrigens von Jahr zu Jahr neu, wie es weitergeht.
MM: Belastet diese Unsicherheit nicht?
Jürgens: Nach zehn Jahren am Theater saß ich mit 30 in der Kantine, war frustriert, weil ich mich am Theater in jungen Jahren nicht so durchgesetzt hatte. Ich sah mich plötzlich als nörgelnden Kantinenschauspieler in die Zukunft gehen, und mir war klar, ich muss hier raus. Am nächsten Morgen kündigte ich. Zwei Wochen später sagte mir meine damalige Freundin und spätere Frau, sie sei schwanger. Und mein damaliger Intendant meinte, dass ich mir das nochmal gut überlegen sollte, wir könnten ja auch über einiges reden. Damals sagte ich mir: Wenn du das jetzt machst, verzeihst du dir das im ganzen Leben nicht. Spring ins Wasser und sieh zu, dass du anfängst zu schwimmen!
MM: Und Sie sprangen und schwammen?
Jürgens: Nach den ersten drei Monaten der Schwangerschaft hörte bei meiner Frau die Übelkeit auf, und bei mir ging das Telefon. Ich drehte meinen ersten Film, dann kam ein Anruf von Hugo Egon Balder. Er hatte mich auf der Bühne und bei zwei Chansonabenden gesehen und fand, dass ich genau der Richtige für ein neues Konzept bei RTL war. Daraus wurde bekanntlich "Samstag Nacht". Das hat fünf Jahre gedauert, was ich nicht im Traum auf dem Schirm hatte, und nach vier Jahren "Samstag Nacht" habe ich gesagt: Ich glaube, es ist der richtige Zeitpunkt, jetzt zu gehen. Wir fanden einen Modus vivendi, dass ich das letzte Jahr noch dabei, aber zum Teil schon frei war.
MM: Hatten Sie dabei keine Existenzängste?
Jürgens: Ich habe mit 30 die Entscheidung getroffen, selbstständig zu sein, und die habe ich mir bis heute nicht nehmen lassen. Am Anfang und auch zwischendurch hatte ich natürlich große Existenzängste bei solchen Entscheidungen. Beim "Tatort" war es zwei Jahre später nicht anders.
MM: Warum haben Sie nach zwei Jahren beim "Tatort" nicht weitergemacht?
Jürgens: Es gab große inhaltliche Probleme, die mir das verbaten. Viele aus der Branche erklärten mich damals für verrückt. Aber ich habe gelernt, dass ich mich auf meine Instinkte verlassen kann und dass ich ab und zu die Komfortzone verlassen muss, um im Kopf wach zu bleiben.
MM: Wann ist für Sie der richtige Moment, zu gehen?
Jürgens: Das entscheidet nicht der Kopf, sondern der Bauch. Da kann da oben das Für und Wider wühlen, wie es will. Irgendwann kommt dann ein Punkt, an dem man keinen Gedanken mehr hat, sondern an dem aus dem Bauch heraus eine Stimme sagt: Jetzt gehe ich! Das war immer so.
MM: Was heißt das für die "Soko Wien"?
Jürgens: Es gibt viele Gründe zu gehen, es gibt viele Gründe zu bleiben, aber die Lust überwiegt immer noch. Natürlich denke ich: Jetzt bist du 54, wie lange willst du das noch machen?
MM: Und die Antwort?
Jürgens: Ewig wird es sicher nicht sein, das kann ich hier versprechen. Ich will nicht sagen, dass wir auf der Zielgeraden sind, aber irgendwann muss es einen Übergang geben. Der fängt jetzt an, ganz klar.
MM: Was hält Sie nach elf Jahren immer noch bei der "Soko Wien"?
Jürgens: Ich verstehe mich bis heute glänzend mit den Kollegen, und wir haben wirklich Spaß - außerdem, hey, ich meine, ich darf da Boot und Motorrad fahren, das ist auch ein bisschen Rock'n'Roll. Und tief im Innern war ich immer ein Rock'n'Roller. Dazu kommt etwas anderes: Sechs Monate im Jahr sind durch die Soko blockiert, und sechs Monate im Jahr habe ich für alles andere frei. Ich bin also relativ unabhängig, Musik zu machen, meine Touren zu planen, meine Platten aufzunehmen und möglicherweise hier und da noch einen anderen Film zu drehen.
MM: In mehreren Interviews haben Sie gesagt, das Carl Ribarski und Helmuth Nowak wie ein altes Ehepaar sind. Wie geht es Ihnen damit, dass Ihr Partner Gregor Seberg in der nächsten Staffel aufhört?
Jürgens: Das ist so, wie man sich das vorstellt, wenn ein altes Ehepaar auseinander geht. Das ist mit vielen Emotionen verbunden, die ich hier gar nicht im Detail offenlegen möchte. Ich glaube, wir beide waren ein Traumpaar. Das findet man übrigens in diesem Beruf nicht so oft. Es ist nicht so, dass wir jeden Tag und jede Nacht miteinander verbracht hätten, sei es in Kneipen oder wo immer. Das war auch gar nicht mehr notwendig. Wir haben so viel Zeit am Drehort verbracht, die letztendlich auch Lebenszeit ist, und wir haben uns glänzend dabei verstanden.
MM: Und jetzt?
Jürgens: Das ist kein einfacher Weg, den man dann geht. Aber erstens ist man nicht aus der Welt, und zweitens: Das Leben fließt. Logischerweise verändert sich das ganze System ein bisschen, aber das ist ja nicht unbedingt schlecht.
MM: Wie viel Stefan Jürgens steckt nach zehn Jahren in der Figur Carl Ribarski?
Jürgens: Bei so einem langen Prozess gibt es natürlich eine gewisse Deckung. Ich habe keine Lust, mich zehn Jahre lang morgens drei Stunden lang schminken zu lassen oder eine andere Körperhaltung einzunehmen. Dazu kommt bei Äußerlichkeiten und bestimmten Mentalitäten eine große Anlehnung, um einen Ton zu finden, der so authentisch ist, wie er nur sein kann. Das ist für mich bei so einem seriellen Werk das oberste Prinzip. Aber was die wirkliche Ausgestaltung der Figur angeht, gibt es schon erhebliche Unterschiede. Letztendlich sind das ja auch Comicfiguren. Wir haben uns vom ersten Moment an deutlich an Formaten wie "Starsky and Hutch" und "Lethal Weapon" orientiert. Bei beiden ist eine gewisse, nicht ganz ernst gemeinte Coolheit vorhanden, so eine Cowboy-Mentalität. Und wir haben ganz bewusst versucht, das als halben Genrefilm zu inszenieren.
MM: Cowboys, die giftig auf Rassismus, Herabwürdigungen und anderes reagieren.
Jürgens: (lacht) Das ist ja das Schöne, wir sind ja die Guten. Das schätze ich sehr an der Figur. Wir können schön drauflos poltern, was wir alles auf dieser Welt scheiße und an menschlichem Verhalten abartig finden. Wir dürfen unsere Weltanschauung auch mit Fäusten verteidigen, ohne dass man immer Polizeiprotokolle ausfüllen muss, weil man gerade wieder einem Arschloch eine auf die Fresse gegeben hat (lacht noch mehr).
MM: Befürchten Sie nach elf Jahren "Soko Wien" nicht, einen Stempel auf der Stirn zu tragen?
Jürgens: Wissen Sie, wie viele Stempel ich schon hatte? Ich habe mit dem Comedy-Stempel angefangen, dann kam der Tatort-Kommissar-Stempel, dann der Soko-Stempel, und jetzt werde ich mit meiner Musik langsam mehr und mehr wahrgenommen, was mich natürlich freut. Ich habe keine Angst vor Stempeln. Ich habe nur Angst, etwas aus reiner Vernunft zu tun. Ich bin nach wie vor ein extremer Lust-Mensch und möchte gerne das tun, was ich mag.
MM: Die "Soko" gilt als kleine Schwester des "Tatorts". Zu Recht?
Jürgens: Diese Kategorisierung liegt schon im Format begründet. Ein Tatort dauert 90 Minuten, die Soko ist mit 43 Minuten in der Werbepause, zumindest in Deutschland. Für uns macht es die Sache interessant, dass die "Soko" in Österreich zur Primetime um 20.15 Uhr läuft. Wir haben uns dort einen ziemlich guten Ruf erarbeitet, der dem eines "Tatorts" in Deutschland entspricht. Das liegt auch daran, dass wir im Gegensatz zu den anderen Sokos, außer der "Soko Leipzig", den Primetime-Anspruch erfüllen müssen. Deshalb scheue ich mich nicht vor diesem Vergleich, um es mal diplomatisch zu sagen.
MM: Wie unterscheiden sich die Arbeitsweisen bei "Tatort" und "Soko"?
Jürgens: Das ist eine andere Konzentration. Beim "Tatort" macht man zwei bis drei Filme im Jahr. Wenn wir in die Produktion gehen, dann stehen die Bücher maximal für die ersten vier Filme. Wir haben aber 16 vor uns, und zwar in einer Reihe. Das bedeutet ab und zu eine gewisse Kurzatmigkeit, und wir versuchen dann mit viel Eigenblut, es bis zum letzten Punkt auf die Reihe zu kriegen, dass alles stimmt. Es gibt auch Bücher, da entstehen manche Szenen erst in den letzten Tagen vor Drehbeginn. Das führt aber trotzdem zu Ergebnissen, wo man sagen kann: Ja, gefällt mir, da stehe ich zu.
MM: Sie sind nicht nur Schauspieler, sondern auch Songwriter. Im März ist Ihr viertes Studioalbum herausgekommen. Welchen Stellenwert nimmt die Musik in Ihrem Schaffen ein?
Jürgens: Ich finde, dass ich als Musiker lange genug im Schatten meiner Schauspielerkarriere stand. Und das versuche ich jetzt zu ändern. Das bedeutet automatisch, dass bestimmte Verschiebungen im Berufsleben stattfinden müssen, damit das zu absolvieren ist. Dass ich aufhöre, als Schauspieler zu arbeiten, glaube ich aber nicht. Ich sehe auch gar nicht ein, warum. Es ist für mich ein unfassbares Glück, in beiden Berufen unterwegs sein zu dürfen.
MM: Ihr jüngstes Album heißt "Grenzenlos Mensch". Da denkt man an vieles.
Jürgens: Das war die Absicht (lacht). Ich habe auch an alles gedacht, was Ihnen oder jedem anderen in den Kopf kommt. Das Album ist also auch ein Tagebuch über die Zeit, in der es entstanden ist, es handelt sich um meine Geschichten oder um mich persönlich. Der rote Faden ist, dass man in einer Zeit, in der alles kleingeistiger wird, die große Freiheit behauptet. "Grenzenlos" ist ein unfassbares Wort. Aber natürlich ist es in dieser Zeit auch mit dem assoziiert, was Grenzen bedeuten.
MM: Muss ein Künstler zu solchen Themen öffentlich Stellung beziehen, wie es zuletzt von Helene Fischer gefordert wurde?
Jürgens: Ich finde jede Art von Direktive inakzeptabel und kann immer nur für mich sprechen. Ich mache eine klare Liedermacher-Musik, natürlich mit sehr modernen Elementen, und da geht es um Texte und Inhalte. Ich behaupte, ich stelle dabei meine Welt in den Raum, so wie ich sie sehe. Das heißt, ich reflektiere. In so ein Werk gehört Farbe und Haltung rein, finde ich. Und die ist dann meistens auch ziemlich eindeutig. Es gibt Musik, die auch ohne Haltung geht, aber nicht meine.
Die Fragen stellten Martin Breuninger und Bernd Jogalla.
ZUR PERSON
Der Schauspieler und Musiker wurde 1963 in Unna geboren. Nach seiner Ausbildung an der Westfälischen Schauspielschule in Bochum war er an Schauspielhäusern in Deutschland engagiert. Jürgens hat an zahlreichen TV- und Kinoproduktionen mitgewirkt. Bekannt wurde er vor allem durch "RTL Samstag Nacht", den "Berliner Tatort" und als Major Carl Ribarski bei der "Soko Wien". Letztere Rolle spielt er seit 2007. Vergangenen März erschien sein viertes Studio-Album "Grenzenlos Mensch". Als Musiker und Pianist schreibt und komponiert Stefan Jürgens seine Stücke selbst.
(aus MM 38/2017)
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