Vor kurzem wurde ich gefragt, ob ich in meiner Praxis mehr Frauen oder mehr Männer sehe. Im Laufe der Jahre ist die Anzahl der Männer, die mich wegen Stresssymptomen, wie Konzentrationsstörungen und Schlaflosigkeit, aber auch Erektionsproblemen aufsuchen, deutlich gestiegen ist. Ich begrüße es, dass immer mehr Männer sich Hilfe suchen und sich trauen zuzugeben, dass es ihnen nicht gut geht. Dabei glaube ich, dass sich auch die Rollenverteilung in den letzten Jahren sehr verändert hat.
Auf der einen Seite hält sich hartnäckig das Bild des Mannes als Ernährer und Familienoberhaupt, der die Entscheidungen trifft, auf der anderen Seite gibt es immer mehr Familien, in denen die Frau zum Haushaltseinkommen beiträgt und (immer häufiger) sogar mehr verdient als der Gatte. Nun leben Männer oft statusorientierter als Frauen und schöpfen daraus Selbstwert: Erwerbstätigkeit, berufliche Stellung und das Einkommen sind zentral für die männliche Identität, aber auch der Familienstand und die Partnerschaft zählen zum sozialen Status. Bedroht oder schmälert irgendetwas diesen Status, führt das bei Männern häufig zu Krisen. Dazu kommt: Viele Männer sind überzeugt, alle Probleme allein lösen zu müssen und nie um Hilfe bitten zu dürfen, um nicht als unmännlich dazustehen. Hier haben Frauen vielleicht den Vorteil, dass sie sich leichter damit tun, professionellen Rat einzuholen, wenn es ihnen nicht gut geht.
Die Zeitschrift Geo schreibt in einem Interview mit Frau Professor Anne Maria Möller-Leimkühler: "Männer gelten zwar gemeinhin als stressresistent und berichten über niedrigere subjektive Stressbelastung als Frauen. Doch interessanterweise reagieren sie stärker psychobiologisch auf Stress als letztere. In Stressexperimenten wurden bei ihnen deutlich höhere Cortisolspiegel gemessen, Blutdruck und Adrenalinspiegel waren erhöht, obwohl die Probanden selber von geringerem Stress berichteten, als die teilnehmenden Frauen. Das ist ein klares Stressparadox. Eine große dänische Studie hat gezeigt, dass Stressbelastung für Männer auf lange Sicht die Lebenserwartung reduziert. Diese Anfälligkeit bei Männern ist ein heikles Thema: Denn es entspricht der klassischen Männerrolle, allzeit belastbar und hoch funktionsfähig zu sein."
Nicht selten entsteht dann aus dem chronischen Stress ein Burnout, der im Grunde eine Vorstufe zur Depression ist. Interessanterweise ist dieser Begriff mit dem männlichen Selbstkonzept eher vereinbar, da er doch das "Ausgebranntsein" bezeichnet, das bis zur totalen Erschöpfung arbeiten und Leistung erbringen, das über die eigenen Grenzen gehen. Die Symptome eines Burnouts beziehen sich zu Beginn meist nur auf die berufliche Produktivität: Totale körperliche, emotionale und geistige Erschöpfung mit verminderter Leistungsfähigkeit. Hingegen sind die Auswirkungen einer Depression etwas anders gelagert und zeigen sich bei Frauen und Männern unter Umständen ganz unterschiedlich: Bei Frauen beobachten wir die vier klassischen Symptome einer Depression: Interesselosigkeit, Freudlosigkeit, Antriebsverlust und Traurigkeit. Männer hingegen geben seltener diese Symptome an. Professor Lehmkühler schreibt dazu: "Hier kann die Depression als sogenannte male depression oftmals verdeckt auftreten, getarnt hinter männertypischen Strategien der Stressbewältigung. [...] Männer können so sehr lange die Fassade von Funktionsfähigkeit und Männlichkeit aufrechterhalten: Ihre Depression bleibt für die Umwelt unsichtbar."
Und weiter: "Wenn Männer unerklärliche innere Anspannungszustände erleben, reagieren sie häufig aggressiv oder neigen zu Risikoverhalten wie etwa schnellem Autofahren. Depressionsgefährdete Männer können auf kleinste Auslöser mit Wut reagieren, obwohl sie zuvor friedfertig waren. Einige stürzen sich auch in die Arbeit mit vielen Überstunden, betreiben exzessiv Sport, trainieren beispielsweise verbissen für einen Marathon oder hetzten täglich mit dem Rennrad um den Chiemsee (oder hier auf Mallorca die Berge hoch). Andere hocken stundenlang vor dem Computer oder konsumieren zunehmend mehr Alkohol und Drogen. [...] Um den Unterschied noch mal klarzumachen: Frauen richten destruktive Kräfte eher nach innen, grübeln und geraten in Sorgenspiralen und Hilflosigkeit. Wir sprechen von internalisierendem Verhalten. Männer hingegen verlagern psychische Konflikte nach außen und versuchen sie dort zu lösen, indem sie externalisieren, auf der Verhaltensebene agieren. Das ist mit dem traditionellen Männerbild kompatibel. Aggression und Depression schließen sich nämlich keinesfalls aus, sondern sind komplementäre Reaktionen auf einen psychischen Konflikt, der subjektiv nicht gelöst werden kann und deshalb zu Frustrationen führt."
Dieses Wissen um die männliche Psyche und Depressionssymptomatik gehört noch nicht zum Standardwissen und so kann es im Schnitt bis zu sieben Jahre bis zur korrekten Diagnose dauern. Die Gespräche zwischen männlichen Ärzten und Patienten sind zudem oftmals sehr kurz, es wird nicht nach emotionalen Konflikten gefragt und Männer sprechen diese von sich aus auch nicht an. Hinter Kopfschmerzen oder chronischen Magenschmerzen verbirgt sich zuweilen, aber auch psychisches Leid.
Darum, liebe Männer, prüfen Sie Ihr Verhalten. Akzeptieren Sie, dass sie verletzlicher sind als sie selber glauben und verabschieden Sie sich von Härte als Ideal. Es kommt darauf an, Stress nicht chronisch werden zu lassen, die eigenen Gefühle zu berücksichtigen. Nehmen Sie die eigenen Grenzen wahr und überschreiten Sie diese nicht dauerhaft. Lange währende Überforderung und mangelnde Selbstfürsorge machen krank. Konkret kann das bedeuten: Sie planen immer wieder Pausen ein, schrauben Ihre Selbstansprüche niedriger und versuchen den Selbstwert nicht von äußerer Anerkennung abhängig zu machen. Gut ist es, wenn es gelingt, Misserfolgen gelassener zu begegnen und selbstschädigende Männlichkeitsnormen zu hinterfragen. Auch ein gesunder Lebensstil mit moderatem Sport, ausgewogener Ernährung und einem geregelten Tag-Nacht-Rhythmus wirkt schützend. Kommen noch ein realistischer Optimismus und vertrauensvolle Beziehungen hinzu, steigert das die Resilienz (MM 37/2022). Wechseln Sie von "Konkurrenz, Karriere und Kollaps", zu "Wir-Gefühl, Work-Life-Balance und Wohlbefinden". Bitte, achten Sie gut auf sich!
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