Martin H. Müller: Welche Kollegen schätzen Sie besonders?
Joji Hattori: Derjenige unter den historischen Dirigenten, der mir für die Erste von Brahms die meisten Ideen gegeben hat, ist Karl Böhm. Und der Dirigent, den ich am meisten bewundere, vor allem für seinen Beethoven, ist Günter Wand. Aber für Brahms und auch die „Neue Welt“ von Dvorak fand ich den alten oder bereits sehr alten Karl Böhm, der in den letzten zehn Jahren seines Lebens unheimlich viel mit den Wiener Philharmonikern gemacht hat, einfach toll. Wenn man ihn besonders genießen will, muss man nach Konzertmitschnitten zum Beispiel auf YouTube suchen, denn eines konnte er nicht besonders: CDs im Studio aufnehmen. Wenn kein Publikum da war, waren seine Aufführungen ziemlich langweilig. Er konnte sich emotional nicht „heineinsteigern“, wenn da niemand im Saal saß.
MHM: Um noch einmal auf Brahms zurückzukommen: das Pauken-Ostinato am Anfang des ersten Satzes wird ja oft so interpretiert, dass es die Schritte Beethovens darstellen soll, vor denen Brahms auf der Flucht war, er hat ja einmal gesagt, dass es fast unmöglich sei, nach dem Riesen Beethoven noch Sinfonien zu schreiben.
JH: Das ist sicher eine interessante Interpretation, die stimmen könnte. Es ist auf jeden Fall eine außergewöhnlich ernste Einleitung für eine Sinfonie, die sofort eine Art Entsetzen verbreitet. Und sie ist sicher eine Art von Referenz an Beethoven. Mit sehr viel Respekt. Respekt vor allem davor, selbst eine große Sinfonie zu schreiben, ich glaube, davor hatte er Angst.
MHM: Was würden Sie sagen: wieviel Beethoven steckt noch in seiner ersten Sinfonie, und wo beginnt der eigentliche Brahms?
JH: Ich bin überzeugt, dass Brahms Beethoven sehr gründlich studiert hat. Aber die erste Sinfonie sehe ich bereits als reinen Brahms. Er hat sicher viele Ideen von Beethoven übernommen, so wie auch ich beim Dirigieren vieles von Karl Böhm übernommen habe. Natürlich hoffe ich, dass die Leute jetzt nicht sagen „oh, das klingt ja wie Böhm!“. Und so soll Brahms auch nicht wie Beethoven klingen, sondern eben wie Brahms.
Für mich gibt es allerdings einen Dirigenten – das ist jetzt etwas abseits von unserer Diskussion über Brahms -, den ich, vor allem bei Mozarts Opern (nicht bei seinen Sinfonien) über alle anderen stelle, und das ist Adam Fischer. Als ich einmal bei einem Festival in Österreich den „Figaro“ dirigierte, hat mir ein Kritiker hinterher gesagt, dass meine Interpretation an Adam Fischer erinnert. Da war ich unheimlich stolz, weil ich ihn so verehre, und wenn jemand sagt, dass ich annähernd etwas Ähnliches biete, ist das für mich eine Ehre. Und so war es wahrscheinlich auch für Brahms eine Ehre, wenn jemand gesagt hat, seine Musik erinnere ihn an Beethoven.
MHM: Brahms war kein Epigone.
JH: Nein, das war er ganz sicher nicht.
MHM: Herr Hattori, Sie haben unter anderem bei Yehudi Menuhin studiert, einem der größten Geiger des 20. Jahrhunderts. Was konnten Sie für sich persönlich bei diesem Studium mitnehmen?
JH: Musikalisch natürlich eine ganze Menge. Aber Menuhin war mehr für mich als ein musikalischer Instruktor, er war auch ins Lebensfragen mein Mentor. Ich habe zum Beispiel als Musiker immer darunter gelitten, dass ich zu viele Interessen hatte. Ich wollte – in Österreich haben wir dafür einen netten Ausdruck – kein „Fach-Trottel“ sein. Nicht einer, der sein ganzes Leben nur einer einzigen Sache widmet. Schon als junger Mensch habe ich es nicht geschafft, vier bis sechs Stunden am Tag zu üben, das war mir zu langweilig. Vier Stunden über Musik nachzudenken, das wäre schon eher möglich gewesen, aber vier Stunden üben – nein. Ich habe ein wenig darunter gelitten. Und da hat Menuhin mich beruhigt und gesagt, dass jeder Mensch anders ist. Man könne die Fach-Trottel, die ihr Leben lang nichts anderes machen als Musik, durchaus bewundern, aber es gebe eben auch Menschen, die ihre künstlerische Tiefe auf anderem Weg erreichen und alles, was sie in anderen Bereichen an Lebenserfahrung sammeln, in ihre Musik einbringen. Damit hat Menuhin mir sehr geholfen.
MHM: Sie sind dem Balearen-Sinfonieorchester seit vielen Jahren verbunden. Wo würden Sie sagen, liegen die besonderen Stärken dieses Orchesters?
JH: Da wäre zunächst einmal der überdurchschnittliche Enthusiasmus der Musiker. Alle sind immer und überall mit ganzem Herzen bei der Sache, und das , obwohl das Orchester überdurchschnittlich viel spielt. Es gibt Berufsorchester, die gerade mal 40 Konzerte im Jahr geben, war für vollbezahlte Musiker recht wenig ist. Die Balearensinfoniker geben über 100 Konzerte…
MHM: …das haben sie sogar während der Pandemie getan, ganz Europa hat neidisch nach Palma geblickt…
JH: Ja, das war wirklich außergewöhnlich. – Eine andere Sache ist das mediterrane Temperament, obwohl viele Orchestermitglieder gar keine Spanier sind. Sonnig, ein Bisschen fröhlich, immer engagiert, mit einer hohen Grundenergie. Es gibt Orchester, die, wenn man aufhört zu dirigieren, immer langsamer werden. Und die hier neigen sogar dazu, etwas schneller zu werden, wenn man aufhört zu dirigieren. Das ist für mich ein gutes Zeichen.
MHM: Herr Hattori, ich danke Ihnen ganz herzlich für die Zeit, die Sie mir geschenkt haben und freue mich sehr auf das Konzert am Donnerstag. Kommen Sie recht bald wieder nach Palma!
JH: Das ist schon geplant, ich dirigiere das Neujahrskontert 2023.
MHM: Etwas Schöneres hätten Sie zum Schluss gar nicht sagen können. Herzlichen Dank!
Den ersten Teil des Interviews können Sie hier lesen. Und wenn Sie hören und sehen wollen, wie der alte Karl Böhm die Erste von Brahms live dirigiert hat: Bei YouTubegibt’s einen Konzertmitschnitt von 1975. Da war Böhm 81.
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