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Vom Mythos der "guten, alten Zeiten"

Früher war alles besser, oder? So sagt man doch, vor allem immer dann, wenn die aktuelle Situation, das Leben, die Weltpolitik unerträglich erscheinen. Wenn ich an meine Jugend denke, habe ich schon den Eindruck, alles sei irgendwie leichter gewesen. Es gab noch kein Social Media, damit war die Vergleichbarkeit zwischen uns Teenie-Mädchen beschränkt auf die Zeit im Umkleideraum oder im Schwimmbad. Ich glaube sogar, dass das Aussehen damals gar keine so große Rolle spielte wie heute. Es gab kein Cybermobbing (Beleidigung, Bedrohung, Bloßstellung oder Belästigung von Personen mithilfe von Kommunikationsmedien, beispielsweise über Smartphones, E-Mails, Websites, Foren, Chats und Communitys) oder Romance Scamming (eine Form des Internetbetrugs, bei der gefälschte Profile in Singlebörsen und auf Sozialen Medien dazu benutzt werden, den Opfern Verliebtheit vorzugaukeln, mit dem Ziel, eine finanzielle Zuwendung zu erschleichen). Mir kommt es vor, als sei die herausfordernde Zeit des Erwachsenwerdens doch einigermaßen gut gelaufen, und zwar nicht nur für mich, sondern auch für alle Jugendlichen, die ich so in meinem Umfeld hatte.

Wenn ich allerdings etwas länger darüber nachdenke, fallen mir doch einige Situationen ein, die ganz und gar nicht gut oder einfach waren. Einmal wurde ein Mitschüler von einem deutlich Älteren einer anderen Schule vor den Augen aller in der großen Pause brutal verletzt, indem der Täter meinem Mitschüler seinen Kopf mit voller Wucht auf die Nase schlug. Dieser stürzte zu Boden, das Blut lief ihm gefühlt literweise aus der Nase und vermutlich war das Nasenbein auch gebrochen durch diese Attacke. Das Schlimmste für uns war damals jedoch, dass die heraneilende Lehrerin ebenso geschockt und hilflos war, wie wir alle. Soweit ich mich erinnern kann, gab es für den Schläger damals, aus Angst vor Rache, keine Konsequenzen.

Jetzt fällt mir auch wieder ein, dass wir einen Mitschüler hatten, der von allen gehänselt wurde, weil seine Haut immer einen gelben Ton hatte. Da er auch ein paar Jahre später jung gestorben ist, vermute ich heute, dass er eine schwere Erkrankung hatte. Damals war das allerdings egal. Durch seine Hautfarbe war er ein gefundenes Opfer. Es wurde damals nicht Mobbing genannt, aber es war genau das. Es war ganz abscheulich, wie wir mit ihm umgegangen sind und es tut mir bis heute leid, wenn ich daran denke.

Es gab in meiner Jugend (1979 bis 1986) Kriege in Afghanistan und Uganda/Tansania, den ersten Golfkrieg und den Krieg um die Falklandinseln, um nur einige kriegerische Auseinandersetzungen zu nennen. Und es gab den kalten Krieg. Es gab die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, es gab schreckliche Hungersnöte, wie die in Somalia. Es gab Erdbeben, Hochwasser und Schneekatastrophen und es gab Aids durch den Erreger HIV.

Es ist also ein Irrglaube zu denken, diese Zeiten wären besser gewesen. Warum aber glauben wir das so gerne? Etwa jeder dritte Deutsche ist laut einer aktuellen Umfrage (ZDF) überzeugt, dass früher ziemlich vieles besser war. "In einer komplexen, unübersichtlichen Welt, wie wir sie heute haben, ist es verständlich, dass Menschen sich nach Verhältnissen sehnen, die sie kennen, und die Vergangenheit auch etwas idealisieren", sagt der Zeithistoriker René Schlott. Neurowissenschaftlerin Maren Urner beschreibt den Mechanismus der Vergangenheitsverklärung als rationale Gedächtnisleistung unseres Gehirns: "Für ein gelungenes Selbstbildnis baut unser Gehirn eine eher positive Zusammenfassung unserer bisherigen Erfahrungen zusammen. Dagegen schauen wir meist kritischer in die Gegenwart, als es nötig ist – reine Vorsichtsmaßnahme."

Die Zeit schreibt dazu in einem Artikel aus 2018:

Der Psychologe Rüdiger Pohl hat lange über das Gedächtnis und seine Fehler geforscht und ist Autor des Buches "Das autobiografische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte". Er sagt: "Wenn wir eine Erinnerung abrufen, über sie nachdenken oder von ihr erzählen, wird diese Erinnerung verändert. Unser Gehirn ist ein lebendiges Organ, das seine Vernetzung in jedem Augenblick ändert und damit auch die Organisation der Inhalte und sogar die Inhalte selber", sagt Pohl. "Während Sie das hier lesen und darüber nachdenken, bilden sich in Ihrem Gehirn Abermillionen neuer Synapsen."

Weiter liest man:

Wenn man das Gehirn mit einer Festplatte vergleicht, bedeutet das, dass die Festplatte neu beschrieben wird. Doch nicht nur das, es kommt noch drastischer. Alte Erinnerungen werden dabei überschrieben. "Das Original-File ist dann weg", sagt Pohl. Wir wissen gar nicht mehr, wie die Erinnerung ursprünglich einmal ausgesehen hat. Wir kennen nur noch die modifizierte, neue Version.

Pohl berichtet über den russischen Gedächtniskünstler Solomon Schereschewski, der im 20. Jahrhundert gelebt hat und sich komplizierte Formeln merken und sogar an ganze Gespräche Wort für Wort erinnern konnte. Abstrakt zu denken hingegen fiel dem Gedächtniskünstler schwer. "Das würde ich keinem wünschen. Wir fluchen, wenn wir wieder vergessen haben, wo die Schlüssel liegen", sagt Pohl. "Aber eigentlich sollten wir dankbar über unsere Gabe, zu abstrahieren, sein." Sonst würden uns die vielen Details unserer Erinnerungen förmlich erschlagen. Stattdessen ist unser Gedächtnis wählerisch. Und wir merken das nicht einmal, weil wir unsere Erinnerungen fortwährend so auswählen und anpassen, dass sie zu unserem gegenwärtigen Selbstbild passen. Pohl sagt, "das ist eine gesunde Form der Verfälschung." Er findet den Vergleich mit der rosaroten Brille gut. "Wir erinnern uns oft falsch, und oft geht's in eine positive Richtung", sagt er. Pohl hält das für einen wichtigen Schutzmechanismus für unsere Psyche. "Vielleicht schützt uns diese Verzerrung ins Positive davor, an der Realität zu verzweifeln."

Auch wenn es sicher nicht immer hilfreich ist, dass wir eher dazu neigen, die Vergangenheit positiver zu erinnern, als sie tatsächlich war – ich denke da beispielsweise an beendete Partnerschaften, die möglicherweise sogar toxisch waren. Dennoch finde ich es recht sympathisch, was unser Gehirn da für uns tut. Allerdings wäre es sicher hilfreich, dann und wann den Satz von Heinz Erhard zu beachten, der da sagte: Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie denken! In diesem Sinne.