Bislang war ich der Meinung, genau zu wissen, was ich brauche. Ich brauche zwischen sieben und acht Stunden Schlaf, am Morgen ein Glas warmes Wasser (für die Gesundheit) und einen Kaffee (für den Genuss). Ich brauche eine wohltemperierte Dusche, um zufrieden in den Tag zu starten, weswegen ich aber noch lange kein bin. Ich brauche fast immer Musik um mich herum, im schlimmsten Fall singe ich selbst. Ich brauche Menschen, die mich mögen und die ich mag. Umarmungen sind mir auch sehr wichtig (siehe auch MM 29/2022). Ich könnte diese Liste vermutlich noch tagelang weiter schreiben und doch wäre ich nie darauf gekommen, dass eines meiner Hauptbedürfnisse ein ganz anderes ist. Eines, das für uns Menschen überlebenswichtig ist. Eines, das manchmal auch von äußeren Umständen abhängt, dessen Erfüllung aber nur in uns selbst zu finden ist oder eben nicht. Jesper Juul, der leider schon verstorbene dänische Familientherapeut und Autor, sagte einmal: "Was brauche ich unbedingt?" Die größte Klarheit über unsere Bedürfnisse gewinnen wir immer dann, wenn sie gerade nicht erfüllt werden.
Na, haben Sie schon eine Ahnung, welches Bedürfnis ich meine? Richtig, ich spreche von dem Wunsch nach Sicherheit. Dieses sorgt dafür, dass Beziehungen funktionieren oder nicht. So entsteht das sogenannte "Klammern", was gerne Frauen zugeschrieben wird, aber auch immer öfter Männer praktizieren, durch das Gefühl, nicht sicher zu sein. Der sich unsicher fühlende Partner spürt, dass es ihm nicht gut geht, er einen Mangel hat und versucht, diesen durch verstärkte Aufmerksamkeit auf den Partner zu beheben. Er versucht also, sein Bedürfnis nach Sicherheit zu erfüllen. Leider führt dieses Verhalten, ohne dass die Bedürfnisse verbalisiert werden, häufig genau zum Gegenteil. Der Andere fühlt sich bedrängt, was ihn selbst unsicher macht und er zieht sich noch mehr zurück. So kann ein Teufelskreis entstehen, der ohne Hilfe von außen nicht selten zu einer Trennung führt.
Dabei kann der offen ausgesprochene Wunsch nach Sicherheit durch den Partner in eine ganz neue Dimension der Beziehung führen. Vorausgesetzt beide Partner lieben sich, ist es den meisten Menschen ein großes Bedürfnis, den anderen glücklich zu sehen. Häufig fragen wir uns, was wir tun können, um das zu erreichen. Dass es so leicht sein kann, ist den wenigsten Menschen klar. Das Gefühl der Sicherheit kann man erzeugen, indem man dem anderen zuhört, ihn vielleicht dabei ansieht und ab und zu aufmunternd oder verständnisvoll nickt. Noch besser ist es, sich zu berühren, an den Händen zu halten oder gar zu umarmen. Eine Umarmung von mindestens 20 Sekunden führt dazu, dass Oxytocin ausgeschüttet wird. Oxytocin gilt als das "Bindungshormon" bei Säugetieren und Menschen, denn es stärkt Vertrauen und fördert soziale Bindungen.
Kommen wir aber zurück zum sogenannten "Klammern". Dadurch wird nicht nur das Bedürfnis nach Nähe bei dem einen Partner gezeigt, sondern auch oft das gegenteilige und auch sehr wichtige Bedürfnis nach Autonomie beim anderen Partner verletzt. Das Bedürfnis nach Selbstständigkeit ist ebenso ein Grundbedürfnis und sollte ernst genommen werden. Interessanterweise wissen häufig die Paare in meiner Paarberatung zu Beginn gar nicht genau, wer welches Bedürfnis hat und welches vom Partner verletzt oder nicht erfüllt wird. Im Laufe der Beratung finden die Paare dann heraus, dass sie ähnliche Bedürfnisse haben und dass es möglich ist, diese ganz einfach zu erfüllen. Zuhören, hinspüren, sich gegenseitig respektvoll behandeln, bilden den Nährboden dafür, dass sich beide auch mit ihren Bedürfnissen zeigen können. Und das ist schon der erste Schritt, um diese dann auch, soweit das für beide möglich und gewünscht ist, zu erfüllen.
Grundsätzlich kann man übrigens sagen, dass jeder Mensch für die Erfüllung seiner Bedürfnisse verantwortlich ist. Vorausgesetzt natürlich, dass er diese überhaupt wahrnehmen kann. Denn leider fragen wir oft gar nicht danach, welches Bedürfnis uns gerade plagt, sondern schauen nur auf die Auswirkungen. Wenn jemand unter Ängsten leidet, ist häufig das Bedürfnis nach Sicherheit im Mangel. Es kann aber auch vorkommen, dass sehr selbstsicher wirkende Menschen, denen man eher wilde Entschlossenheit als Ängste zuschreiben würde, im Grunde genommen ganz unsichere Menschen sind. Das nach außen gezeigte Verhalten ist dann eher eine Lösungsstrategie nach dem Motto: "Angriff ist die beste Verteidigung". Darum sollten wir uns vielleicht häufiger mal fragen, was uns gerade wirklich belastet, ärgert, herausfordert oder schlicht traurig macht. Sei es im Umgang mit dem Partner oder den Kindern, sei es am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis. Es könnte nämlich auch ein ganz anderer Grund (sprich: ein anderes Bedürfnis) dahinter stecken. Ein vom Gesprächspartner dahingesagtes und gar nicht so ernst gemeintes Wort kann bei uns vielleicht eine tiefe Verletzung berühren und ein Bedürfnis nach echter Begegnung sichtbar machen. Ebenso kann ein Chef, der am Morgen nicht mal in der Lage ist, die Mitarbeiter freundlich zu begrüßen, bei seinen Leuten das Bedürfnis nach Anerkennung und Respekt auslösen. Wüsste er davon, könnte er allein mit einer anderen Haltung dafür sorgen, dass seine Mitarbeiter engagierter für ihn arbeiten und eher bereit wären, auch mal eine Überstunde zu machen.
Manche Bedürfnisse (vorausgesetzt, wir erkennen sie) können gar nicht erfüllt werden. In diesem Fall wird uns unsere hoffentlich gut ausgebildete Frustrationstoleranz helfen, eine andere Lösung zu finden. Sei es, dass wir unseren Wunsch nach Nähe vom Partner, der gerade auf Geschäftsreise ist und ganz andere Sorgen hat, auf ein Haustier verlagern oder das Bedürfnis nach einem großen Eisbecher mit Eierlikör, vor der geschlossenen Eisdiele stehend, plötzlich und unerwartet einem nach Erdbeertorte mit Schlagsahne weicht. Beiseite Scherz. Wir sollten vielleicht öfter mal wohlwollend und liebevoll überlegen und hinfühlen, welches Bedürfnis wir gerade haben und wie wir es erfüllen können. In diesem Sinne.
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