Böse Zungen behaupten, in Pina sei der Hund begraben. Doch sie
irren wohl. Quicklebendig steht Ratero Lucy inmitten des großen
leeren Kirchplatzes. Die dünnen schwarzen Hundebeine schlottern,
als spüre auch sie den rauen Wind, der in dem ungeschützten Dorf am
Hügel an diesem Tag besonders herb durch die Gassen pfeift. Lucy
wartet. Wie eigentlich jeden Morgen. Dann nämlich geht Herrchen
Bartolomé ein paar Meter weiter in der Bar „Estanco“ genüsslich
seinem Frühstücksritual nach: Milchkaffee, Zeitungslektüre, der
zweite Milchkaffee; wenn's besonders gemütlich ist, darf es auch
noch ein dritter sein. Bedächtig blättert der 83-Jährige eine
Zeitungsseite nach der anderen um, scheint kaum zu bemerken, wenn
Lucy manchmal mit einem neuen Gast frech zur Tür hineinwitscht,
kurz die Gelegenheit ergreift, nach ihrem Herrchen zu sehen und ihm
wohlwollend um die Beine zu streifen. „Die geht überall hin mit“,
erklärt Bartolomé knapp und hebt den Blick von den gedruckten
Zeilen, „wenn ich mit dem Rad heimfahre, rennt sie hinterher und
selbst in der Kirche weicht sie nicht von meiner Seite.“ Was wohl
Pinas Pfarrer dazu zu sagen hätte?
Die 70-jährige Maria Bibiloni und ihr Sohn Joan scheinen sich an
dem tierischen Gast in ihrer Bar jedenfalls nicht zu stören. Lucy
ist auch längst nicht der Einzige: Auf einem Zeitungsstapel hinter
der Theke thront schnurrend ein Kater mit blaugrauem Silberfell und
majestätischem Blick.
Seit seine Kinder das Tier vor gut zwei Jahren halb verhungert
am Strand von Can Pastilla aufgegabelt hätten, sei die „Bar
Estanco“ die neue Heimat von Igor, erzählt Joan. Den Namen Igor
habe er ihm in Anspielung auf die Rasse verpasst: Igor ist eine
„Russisch Blau“. „Ein Russe in meiner Bar!“, ruft Joan und grinst
breit unter seinem Vollbart über seinen eigenen Scherz, „da haben
wir uns erst einen waschechten Foraster (Ausländer/Ortsfremder)
eingebrockt!“ Ortsfremde sind in Pina nämlich so etwas wie bunte
Hunde. Dass in dem kleinen Dorf, das eigentlich Algaida unterstellt
ist – aber davon will in Pina niemand etwas hören – jeder jeden
kennt, ist wörtlich zu nehmen. Bei nur knapp 300 Seelen gar keine
so große Kunst. Und mit jedem Jahr werden es ein paar weniger. „Die
jungen Leute bleiben nicht hier“, sagt Maria nachdenklich, „die
zieht es alle weg, nach Palma.“ Ein paar Straßen weiter
ortsauswärts ist das grüne Holztor zur Werkstatt des alten
Rohrmachers – einst einer der wenigen Gewerbebetriebe von Pina –
seit Jahren verrammelt. Der Mann ging in Rente, es fand sich kein
Nachfolger. Kein Einzelfall. Nachwuchssorgen scheinen auch die
Franziskanerinnen des großen Klosterkomplexes neben dem Kirchplatz
zu haben. Wo es einst vor jungen Novizinnen nur so wuselte, wohnen
heute gerade mal noch eine Handvoll Nonnen.
Außer zwei Kirchen und Wohnhäusern gibt es nicht gerade viel in
Pina, wo sich das Leben abspielt: Zwei Bars und den
Gemischtwarenladen „Ca'n Xiscos“. Der hat sich von einer
traditionellen, weit über die Dorfgrenzen hinaus bekannten
Backstube zu einem Mini-Supermarkt mit bunt
durcheinandergewürfeltem Sortiment entwickelt. An die alten Zeiten
erinnert nur noch eine zur Zierde erhaltene gusseiserne Ofenklappe.
„Ein geschichtsträchtiger Laden?“, die Inhaberin schaut ungläubig
und schüttelt abweisend den Kopf. „Davon weiß ich nichts. Wir haben
das hier vor fünf Jahren übernommen – keine Ahnung, was vor uns
war.“ Das Ende eines Familienunternehmens, wie es auch die „Bar
Estanco“ ist. „Ich bin in diesem Haus geboren“, erzählt Wirtin
Maria, „schon als Kind, ich war das einzige, weil meine Geschwister
jung starben, musste ich mithelfen und Gläser polieren.“ Sie
lächelt versonnen: „Weil ich noch so klein war, schob mir meine
Mutter immer eine Getränkekiste unter, damit ich überhaupt an den
Tresen kam. Heute wär' sowas ja gleich Kinderarbeit – aber früher,
da ging es eben gar nicht anders.“ Maria strahlt, für ihre 70 Jahre
ist sie noch auffallend jung, viele Stunden steht sie auch heute
noch hinter der Theke. „Einer muss ja schließlich da sein. Wenn ich
morgens um halb sechs aufsperre, dann stehen meistens schon die
Ersten wartend vor der Tür, die noch schnell auf einen Kaffee
vorbeischauen, bevor sie aufs Feld zum Arbeiten gehen.“ Aber nicht
nur die Bar haben sie und ihre Mutter – in diesem Jahr wird die
Dame 99 Jahre alt – so fit gehalten. „Das ist die himmlische Ruhe
in diesem Ort, die tut so gut“, sagt Maria und schmunzelt wissend
in sich hinein.
Wer die nicht gewohnt ist, dem mag sie fast befremdlich
erscheinen. Auch an diesem Morgen sind die kleinen Gassen trotz
heiteren Sonnenscheins wie leergefegt, kaum eine Menschenseele ist
zu sehen. Verloren tuckert ein Mietwagen mit Touristenfamilie durch
den Ort. Doch nicht mal die alte versiegte Dorfquelle scheint sie
zur Rast zu reizen. Dabei ist der holprig gepflasterte Platz mit
den steinernen Trögen ein idyllisches Kleinod. Dort wo einst die
Hausfrauen von Pina ihre Wäsche schrubbten, laden leicht marode
Sitzbänke zum Innehalten in Stille ein – nur unterbrochen vom
Rauschkonzert des glänzenden Blätterzelts zwei riesiger
Eukalyptusbäume.
Auch in der Bar „Estanco“ geht es beschaulich zu. Gleich drei
Uhren ticken an den vanillefarbenen Wänden zwischen verspiegelten
Reklameschildern von Jägermeister bis Martini, dabei schaut hier
eigentlich keiner auf die Uhr: Zeitdruck und Hektik scheinen
Hausverbot zu haben. Auch viele Worte werden nicht gemacht. Vor
wenigen Stunden erst ist die balearische Regierungskoalition
auseinandergebrochen. Doch darüber fällt kein einziger Satz. Viel
interessanter scheint dagegen der Mopedunfall eines 17-Jährigen am
Wochenende und die Ausführungen, wer aus dem Dorf gerade an welchem
Zipperlein leidet.
An einem der zierlichen Eisentischchen mit grüner Marmorplatte
nahe dem bullernden Gasofen hat sich eine Gruppe Arbeiter
niedergelassen. Schweigend nippen sie am Bier, beißen dann herzhaft
in die von zu Hause mitgebrachten Stullen. „Das ist schon o.k.“,
sagt Joan kommentierend „schließlich bieten wir hier keine Küche,
mir reichen meine drei Geschäfte, da muss ich mich nicht noch
hinstellen und Bocadillos schmieren.“ Drei Geschäfte – damit meint
er Barbetrieb, Zigaretten- und Zeitungsverkauf, Lotterie: Die Bar
„Estanco“ (Tabakladen) hat ihren Namen nicht von ungefähr. Neben
dem Spirituosenregal stapeln sich Zigarettenpäckchen, rechts im
Raum ist die Maschinerie für das große Los.
Ein solches fiel vor rund einem Jahr auf einen hier verkauften
Lotterieschein. „Das war am 18. Januar 2009“, sagt Joan und kramt
stolz und behände das Plakat hervor, das anschließend viele Wochen
über dem Tresen prangte: 44.878 Euro Gewinn heimste der Spieler
ein. Noch Wochen später sprach man in Pina davon. „Aber wer die
kassiert hat, das erfuhren wir nie. Wahrscheinlich einer, der auf
der Durchfahrt hereingeschaut hatte.“ Oft sind solch große Summen
in der „Estanco“ noch nicht erspielt worden – und das trotz einer
verstaubten Miniaturhexensammlung über dem Türrahmen, von der Joan
Stein und Bein schwört, jede Einzelne sei ein Glücksbringer.
Zumindest kann er sich noch an einen anderen großen Gewinn
erinnern: Das war aber schon 1986, als eine Tippgemeinschaft 20
Millionen Peseten holte – 120.000 Euro. „Ein Haufen Geld“, sagt
Joan nachdenklich, „damals hast du in Pina für drei Millionen
Peseten noch ein ganzes Haus bekommen.“ Und Bars mit integriertem
Kiosk gab es da noch fast in jedem Dorf. Heute ist die „Estanco“
eine der wenigen, die geblieben sind. „Die Einzige, die ich
überhaupt noch kenne“, wirft der junge Schreiner Juan ein, der ab
und an auf einen Drink vorbeischaut, wenn er einen Auftrag in der
Gegend zu erledigen hat. Wie lange sie das noch bleiben wird,
scheint fraglich. „Die Lotterie mache ich nur noch meiner Mutter
zuliebe“, erzählt Joan leise, als sie außer Hörweite ist, „das
rentiert sich alles nicht mehr. Ich hab viel Arbeit und was kommt
am Ende dabei rum? Vier Prozent gibt mir der Staat, das ist doch
lachhaft.“ Schon einmal vor knapp 30 Jahren sei das Konzept der Bar
grundlegend geändert worden: „Damals war dieser Raum noch
unterteilt“, erzählt Joan, „es gab ein Raucherzimmer und eine
Rasierstube. In der seifte mein Großvater die Männer erst mal
ordentlich ein, bevor sie ihren Kaffee bekamen. Das war noch ein
Leben ...“ Wehmut ist seiner Stimme anzuhören, dann wird sie wieder
vom Röhren einer scheppernden Kaffeemaschine übertönt. „Das ist die
lauteste Kaffeemaschine, die ich kenne. Aber sie macht einen
fantastischen Kaffee“, sagt Michael Simmes lachend, der sich galant
auf einen Barhocker geschwungen hat. Einer der wenigen deutschen
Stammgäste: Seit rund 15 Jahren lebt der Wiesbadener auf einer
Finca bei Pina, drei-, viermal die Woche schaut er auf eine Tasse
vorbei. „Ah, mi amigo!“ ruft Maria bei seinem Anblick, verfällt ins
Plaudern, wechselt augenblicklich vom Mallorquín ins Castellano,
artikuliert besonders deutlich und langsam. „Hier kann man sich
einfach wohlfühlen“, erzählt Simmes später. „Hier ist noch das
echte Mallorca. Ein Mann, ein Wort, hier hält man noch zusammen.“
Und dann, an Maria und Juan gerichtet, „ich lobe euch gerade. Weil
es hier immer so schön ist!“ Da wird sogar Joan ein kleines
bisschen Rot vor Freude.
Kein Kommentar
Um einen Kommentar schreiben zu können, müssen Sie sich registrieren lassenund eingeloggt sein.
Noch kein Kommentar vorhanden.