Auf dem Weg zu meinem Standort bin ich davon
überzeugt: Alle Menschen müssen mich anstarren. Schon zu Hause
schien mir mein Outfit eher Verkleidung als Camouflage. Ein paar
alte, fleckige Klamotten müssten es tun. Dachte ich. Doch nun fühle
ich mich absolut unbehaglich, als ich auf meinem Campingstühlchen
auf der Avenida Jaume III. gleich neben „C&A“ Platz nehme.
Einen Vormittag zu betteln, die Leute um ein paar Céntimos
anzugehen, zu erspüren, wie sich diese Situation anfühlt – das habe
ich mir vorgenommen an diesem kühlen, regnerischen Vormittag. An
meinem ersten Platz kann ich nicht lange bleiben. Die Verkäuferin
des Nobel-Ladens verscheucht mich: „No queremos mendigos – wir
wollen keine Bettler“, erklärt sie. Ich diskutiere nicht, sondern
ziehe zwanzig Meter weiter. Hier störe ich offenbar niemanden.
Die zunächst wichtigste Erfahrung: Die Perspektive auf Menschen
verändert sich. Ich sitze, die anderen gehen oder stehen. Mein
Blick ist plötzlich auf Füße, Schuhe und Beine reduziert. Mir ist
noch nie aufgefallen, wie viel Geld Menschen auf ihr Schuhwerk
verwenden. Und wie vielfältig das Erscheinungsbild ist – von
abgelatschten Reebok bis zu ausgefallenen High Heels. Junge Füße,
alte Füße, müde oder lebendige Füße. Später werde ich an den
Schuhen festmachen können, wenn Menschen mehrfach an mir
vorbeikommen.
Die zweite Erfahrung: Ich bin unsichtbar, nicht existent.
Manchmal tritt mir jemand fast auf die Füße. Einmal rammt mich eine
junge Frau mit Kinderwagen. Nicht aus bösem Willen – man sieht mich
einfach nicht: Ich habe den Stellenwert eines Papierkorbes. Ein mir
gut bekannter Galerist kommt an meinem Stühlchen vorbei. Im Abstand
von maximal 150 Zentimetern von mir trifft er einen Bekannten, hält
mit ihm einen längeren Plausch und – geht weiter. Er hat mich nicht
zur Kenntnis genommen. Auch andere Passanten, die ich vom Sehen
kenne, erblicken mich nicht.
Die wenigen Menschen, die mich zur Kenntnis nehmen, sind
verlegen. Oder verärgert. Oder angeekelt. „Disgusting“, fasst eine
englische Touristin meinen Anblick zusammen. Fast alle Passanten
senken automatisch den Blick – wenn er denn überhaupt auf mich
fällt.
Nach und nach werde ich mutiger. Ich strecke meine Hand in der
bekannten Bettelgebärde immer weiter nach vorne. Und manchmal traue
ich mich sogar zu murmeln: „Una ayuda, por favor.“ Das führt dazu,
dass man einen Bogen um mich macht und ausweicht. Offenbar ganz
automatisch. Am meisten jene mit den Tüten der Nobelmarken in der
Hand. „Nespresso“ ist dabei eindeutig führend.
Nach einer guten Stunde geschieht ein Wunder. Ein junger Mann,
farbig und gutaussehend, im Jogginganzug, legt einen Euro auf
meinen Pappdeckel. Als ich mich bedanke, sagt er mit strahlendem
Lächeln: „De rien, Madame.“ Wenn das kein Stil ist.
Ich bekomme Aufschwung, schaue mehr nach oben. Die Menschen
reden miteinander, viele, sehr viele telefonieren, fast alle gehen
schnell, sind sehr zielgerichtet. Die meisten sind ungemein gut und
teuer angezogen. Das ist mir sonst niemals so sehr aufgefallen. Zu
meinem wachsenden Mut gehört auch, dass ich Augenkontakt suche.
Vergeblich – niemand schaut mich wirklich an. Nur wenn ich sie ganz
fest anschaue, dreht sich manchmal jemand nach mir um.
Wie auch jene englische Touristin – sie kann niemand anders
sein, – die mir nach einer weiteren halben Stunde zehn Cent
zukommen lässt. Sie ist sich dabei selbst mindestens ebenso
peinlich wie ich ihr.
Mit der Zeit wird mir kalt, die Knochen tun mir weh. Es ist
nicht einfach, längere Zeit wirklich still zu sitzen. Als meine
selbst gesetzte Frist von drei Stunden fast vorbei ist, nestelt
eine ältere Mallorquinerin in ihrem Portemonnaie und gibt mir sechs
Cent.
Fazit eines Vormittages: Einnahmen von einem Euro und sechzehn
Cent. Kein wirklicher guter Stundenlohn. Aber eine
unwiederbringliche Erfahrung.
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