SEPASGOSARIAN
D ienstag, 15. Juni. In Portugal macht sich die deutsche
Nationalelf für ihr erstes EM-Spiel gegen Angstgegner Holland
bereit. Auch auf Mallorca fiebern die Fans der Fußball-Schlacht
entgegen. Das Protokoll von der Playa de Palma:
20.25 Uhr: Im Bierkönig herrscht zwischen den Tischen
dichtes Gedränge. Über den Köpfen wirbelt eine aufgeblasene
Sexpuppe herum, nur mit einem orange-farbenem Holland-T-Shirt
bekleidet. Wo sie auch landet, wird sie gleich wieder weggeboxt.
Über die Großleinwand flimmert Rudi Völler.
20.35: Im Mega-Park stehen die Massen dicht an dicht, aus
den Boxen schallt Country-Roads, auf den Tischen ragen die
meterlangen Biersäulen zum Selbstzapfen in die Höhe. „Dieser Gang
muss für die Gastronomie frei bleiben”, sagt ein Mitarbeiter und
weist Ankömmlinge in den schwülen Bereich, wo sich die Gäste
bereits zusammenballen. Drei junge Frauen mit blumengeschmückten
Abendkleidern folgen nur zögerlich.
20.45 / 1. Spielminute: Auf dem TV-Bildschirmen des
niederländischen Cafés De Babbelar kicken die Spieler los. Nach
zwei völlig verregneten Tagen steht endlich wieder die Sonne am
Abendhimmel über der Bucht von Palma. Ihr Licht lässt das
spiegelglatte Meer in Blau und Gold zerfließen.
2. Minute: Van Nistelrooy überflügelt Wörns und taucht frei vor
Kahns Tor auf. Die Niederländer sind wie elektrisiert. Die meisten
tragen orangefarbene T-Shirts, das ganze Straßen-Café ist mit
Plastikgirlanden und Luftballons in derselben Farbe dekoriert. Eine
junge Niederländerin mit langem Blondhaar taucht auf, setzt sich an
einen Tisch. Typ Fotomodell, knappes Top, enger Strickrock,
atemberaubende Figur. Die anderen starren auf das Grün im
Fernsehen.
12 . Minute: Gelb für Kuranyi, wird von den Niederländern
jubelnd begrüßt. Der holländische Kommentar klingt, wie wenn Rudi
Carrell Deutsch spricht, und es ist dennoch kein Wort zu verstehen.
Die Sonne verschwindet über den Bergen hinter einer Wolke. Sie
gleicht einem Atompilz, der über Galilea steht.
16 . Minute: Vier übermütige Mädchen laufen am Café
vorbei, rufen: „Deutschland, Deutschland!”. Der Kellner trägt eine
orangefarbene Perücke, ruft Erinnerungen an den TV-Kobold Pumuckl
wach. „Drie Zestig” will er für zwei kleine „Biertje”. Eine von
drei Holländerinnen ist am Steiß tätowiert.
29 . Minute: Die Sonne ist hinter den Bergen
untergegangen. Der ganze Himmel trägt „Oranje, oranje!” Einzig
Hollands Torwart muss ein gelbes Trikot tragen.
30 . Minute: Freistoß Frings. Der Ball prallt an den
Pfosten und kullert ins Tor. „O, wat dom”, flucht ein Niederländer.
Andere bedecken ihre Häupter mit den Händen wie mit Schande. Eine
Touristen-Bahn rollt am Café vorbei. Fährt da Hollands Zug ab?
42 . Minute: Van der Vaarts schießt am Tor knapp vorbei.
„Ooohhh!”. Nutzt alles nichts. Auf einem der Oranje-T-Shirts steht:
„Rot up trut. Ik drink met mate.” Was das bedeutet? Keine
Ahnung.
(Halbzeit)
46 . Minute: Die Nationalelf ist wieder vollständig
versammelt. Auch im Mega-Park. Zumindest den weißen Trikots nach.
Falls die Träger nicht mit gänzlich entblößter Brust auf den
Stühlen tanzen. „Deutschland, Deutschland” schallt es aus tausend
Kehlen, ein Meer von Armen und Händen klatscht über den Köpfen. Ein
Mann mit rasiertem Schädel hat sich das breite Kreuz mit
schwarz-rot-goldenem Tuch behängt.
53 . Minute: Ballack ballert am Kasten der Niederländer
vorbei. Alles stöhnt auf. Neben der Mega-Leinwand funkelt eine
Elektropalme rot, gelb, grün im nachtblauen Himmel. Rudis Mannen
wetzen scheinbar im schwerelosen Raum umher. Der deutsche Kommentar
geht im Radau unter.
60 . Minute: Die Menge skandiert à la Guantanamera: „30
Minuten, Ihr habt noch 30 Minuten...” Eine Blondine im roten
Pullover sagt: „Oh Gott, hoffentlich gewinnen die Deutschen.”
69 . Minute: Die Niederländer rennen verzweifelt umher,
während ein Kellner verzweifelt ein Tablett hoch über dem Kopf
durch die aufgepeitschte Menschenmenge balanciert. In den
Trinksäulen fällt der Bierpegel bedrohlich. Glasige Augen halten
jeden Ballwechsel fest. Jemand reicht am Tisch einen halbvollen
Bierseidel zum Umtrunk: „Das Blut Hollands!”
74 . Minute: Kahn, der Held, hält. „Kahni, Kahni...”
81 . Minute: Tor-Schock im Mega-Park. Die Luft bleibt
weg. Dann helle Empörung, Aufschreien, Buh!, Nein!, Arrrrgh!
84 . Minute: „Das kann echt nicht wahr sein. Hoffentlich
kriegen wir nicht noch einen rein”, jammert ein Mann am
Nebentisch.
86 . Minute: Kahn rettet mit Fäusten. Die Menge tobt.
Gefühlsbäder aus Angst, Euphorie, Schweiß und Bier. Die Kellner
bahnen sich per Trillerpfeife den Weg durch die Massen.
Abpfiff: Erleichterung macht sich breit: keine Niederlage. Und
Enttäuschung: doch kein Sieg. Unentschieden eben. Aus den Boxen
dröhnen die Schlager los: „Country Roads, take me home...”
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