Der Biologie-Student Andrés weiß Deutschland von Österreich
nicht so recht zu unterscheiden. Nach kurzem Überlegen schätzt er
die Einwohnerzahl von Europas fleißigstem Nettozahler auf „um die
acht Millionen”. Immerhin, die Hauptstadt ist auch für den
Mallorquiner Berlin. Die geopolitische Bildungslücke wäre halb so
schlimm, hätte Andrés dieser Tage auf dem Passeig des Born nicht
eine besondere Mission zu erfüllen. Er steht dem Zelt vor, das
anlässlich der EU-Erweiterung Wissenswertes über die beiden Länder
im fernen Norden unters Inselvolk bringen soll.
Wer bislang Mühe hatte, die Eckdaten der 15 Mitglieder zu
speichern, tendiert seit 1. Mai vermutlich zur Resignation. In
ihrer fünften Erweiterung schwoll die Europäische Union um zehn
mittel– und osteuropäische Staaten an: Polen, Ungarn, Tschechien,
Slowakei, Estland, Lettland, Slowenien, Zypern und Malta. Die
jahrzehntelange Trennung des Kontinents in West und Ost wurde damit
endgültig überwunden. Der politische Nutzen in Form von Stabilität,
Demokratie und Marktwirtschaft im Osten Europas war für die EU das
überragende Motiv für die Erweiterung.
Doch längst nicht alle stimmen in den von oben verordneten Jubel
ein. Es steht viel Geld auf dem Spiel, und die Zauberworte heißen
Kohäsions– und Strukturfonds. Weil als einzige Region der neuen
Beitrittsländer Prag die durchschnittliche Wirtschaftsleistung der
EU erreiche, werde es zu einer Konzentration der Fördermittel auf
die MOE-Staaten kommen, erläutert eine Studie der HypoVereinsbank.
In der Haushaltsperiode 2002 bis 2006 stellt die EU für die
Regionalförderung rund 213 Milliarden Euro zur Verfügung.
Die Balearen bekommen davon nicht allzu viel zu sehen. „Daher
hat die Erweiterung für uns kaum finanzielle Nachteile”, sagt der
Präsident der Handelskammer für Mallorca, Ibiza und Formentera,
Miquel Lladó. Aus gutem Grund: Das Pro-Kopf-Inlandsprodukt liegt
mit 101 Prozent über dem EU-Durchschnitt (100), womit sich der
Archipel als Zielgebiet-1-Region – deren Pro-Kopf-BIP darf
höchstens 75 Prozent des EU-Durchschnitts betragen – klar
disqualifiziert. In diese Regionen überweist die EU 70 Prozent
ihrer gesamten Strukturfonds. Damit sollen unter anderem Defizite
bei der Basisinfrastruktur und auf dem Arbeitsmarkt behoben
werden.
Ganz leer gehen die Balearen trotzdem nicht aus. Der EU-Fond für
Regionale Entwicklung (EFRE) spült zwischen 2000 und 2006 90'4
Millionen Euro zur Bewerkstelligung wirtschaftlicher und sozialer
Umstellungen in den Insel-Haushalt. Damit sind die Balearen
Zielgebiet 2, wofür elf Prozent der Mittel aus den Strukturfonds
(22'5 Milliarden Euro) aufgewendet werden.
Und dank Zielgebiet-3-Förderung erhalten die Inseln für
Investitionen in Bildungssysteme und Beschäftigung weitere 31'6
Millionen Euro. Vergleichsweise lächerliche Summen, wenn man
bedenkt, dass der Kohäsionsfonds ärmeren spanischen Regionen im
gleichen Zeitraum mit insgsamt 11'2 Milliarden Euro unter die Arme
greift.
In der nächsten Strukturperiode (2007 bis 2013) wird die EU der
HypoVereinsbank-Studie zufolge die Strukturförderung in nur noch
zwei Zielgebiete einteilen. Die Verfasser gehen davon aus, dass die
MOE-Staaten dann ungleich mehr Gelder aus den EU-Töpfen bekommen
als bis 2006.
Wie Spanien und die Balearen aus dem bereits begonnenen
Verteilungskampf hervorgehen, muss abgewartet werden. Derzeit
herrscht angesichts der Erweiterung noch Optimismus.
Handelskammer-Chef Lladó sieht „große Investitionsmöglichkeiten in
den neuen Ländern”. Die Arbeitskosten seien dort niedrig – nach
einer Studie der spanischen Handelskammer 4'2 Euro/Stunde gegenüber
13'3 Euro/Stunde auf den Balearen – und das Ausbildungsniveau hoch.
Die balearischen Unternehmen fordert er auf, sich baldmöglichst
einen Marktanteil im Osten zu sichern.
„Bislang exportieren wir nur 1'3 Prozent unserer Waren in diese
Länder”, so Lladó, „doch mit steigender Kaufkraft wird der Handel
zunehmen.” In einem an Wettbewerb ständig zunehmenden Markt bricht
der Präsident des balearischen Arbeitgeberverbands CAEB, Josep
Oliver, eine Lanze für Qualität. „Das ist langfristig die einzige
Strategie, unsere Produkte in der EU erfolgreich zu
positionieren.”
Beim Tourismus ruhen die Hoffnungen der hiesigen Unternehmen auf
Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn. „Das Reisen für
Urlauber wird einfacher, und wir sind überzeugt, dass diese Branche
am meisten von der Erweiterung profitiert”, gibt sich Lladó
optimistisch. Dem Beitritt der Sonneninseln Zypern und Malta misst
er keine Bedeutung bei: „Diese Konkurrenz gab es bisher auch
schon.” CAEB-Boss Oliver stimmt den Prognosen Lladós zu, erwartet
eine spürbare Auswirkung auf die Besucherzahlen aus den
MOE-Staaten, aber „frühestens mittelfristig”.
Student Andrés vom deutsch-österreichischen Gemeinschaftsstand
ficht das alles vermutlich wenig an. Mit einem Anflug schlechten
Gewissens kramt er ein paar DIN-A-4-Blätter hervor, „über
Deutschland, aber Zeit, sie zu lesen, hatte ich bisher nicht”.
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