Manieren, Etikette, Anstand – Auffassungen, die mir als Kind das
Essen verleideten. Meine Tante Margarete sprach gerne davon, als
ich ein kleines Mädchen war.
Sie sagte: „Gepflegte Tischkultur” und meinte damit
ausschließlich Verbote und Gebote. Nicht selten verging mir der
Appetit bei soviel „Sitz gerade!” – „Sprich nicht mit vollem Mund!”
– „Leg die Ellenbogen an!” – „Man hält Messer und Gabel immer im
leichten Winkel nach unten geneigt!” Wie auch immer – das Wort von
der „Gepflegten Tischkultur” wurde für mich zum Reizwort.
Später, als ich älter wurde, merkte ich, dass mir ein schön
gedeckter Tisch, mit edlem Geschirr und schönen Gläsern, sehr gut
gefiel. Nur zu Zeiten rebellischer Studentenjahre bevorzugte ich
das Wurstpapier auf einer Apfelsinenkiste und aß nach Möglichkeit
nur mit den Fingern. Sozusagen aus politischen Gründen. Doch wie so
vieles im Leben ging auch das vorüber.
Als ich anfing zu reisen, stellte ich fest, dass „Gepflegte
Tischkultur” keineswegs überall das gleiche ist. Zunächst kam
Italien. Dort knackten auch höchst kultivierte Leute ihre Scampi
mit den Händen, voller Vergnügen und gutem Appetit. Es folgten
arabische Länder, und ich sah, dass man auch mit drei Fingern
vollendete Etikette beherrschen kann. Auch in Indien aßen viele
Leute ohne Besteck, voller Grazie und Anmut. Und ein schön
gedeckter Tisch kann auch nur mit einer Blüte oder mit einem
einfach geschnitzten Holzlöffel ganz wunderbar sein.
Mein Nachbar hat Bauarbeiter auf dem Grundstück. Jeden Morgen
gegen 10 Uhr setzen sie sich auf ein paar Ziegelsteine, stellen
eine Kiste in die Mitte, breiten ein kariertes Küchenhandtuch
darüber und packen ihr Frühstück aus. Dazu ein scharfes Messer und
ein paar Becher mit Henkel. Sie sprechen mit vollem Mund und legen
die Ellenbogen gar nicht an. Dass es ihnen schmeckt, kann man
sehen. Vermutlich kannte meine Tante Margarete diese Form von
„gepflegter Tischkultur” nicht. Schade für sie.
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