Guillermo Timoner in seinem Privatmuseum. | Foto: Alexander Sepasgosarian

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Die Regenbögen sind zweifellos etwas verblasst. Doch sicher verwahrt hinter Glas, in einem geschnitzten Holzrahmen, künden sie noch immer von Erfolgen, die 50, 60 Jahre zurückliegen. Die Rede ist von den Regenbogen-Trikots des Radsport-Weltmeisters Guillermo Timoner. Die weißen Hemden mit dem violett-rot-schwarz-gelb-grünen Streifen auf der Brust werden in der Klosterkirche von Sant Salvador bei Felanitx nahezu wie Reliquien aufbewahrt. Viele ausländische Besucher, die das schummrige Eingangsportal des wehrhaften Gotteshauses betreten, betrachten gereckten Hauptes die angejahrten Trikots, die in luftiger Höhe dicht unter dem Tonnengewölbe angebracht sind. Timoner wer?

Guillermo Timoner strampelt noch immer kräftig mit den muskulösen Beinen. Liest der 83-jährige Mallorquiner Zeitung, sitzt er auf einem selbst gebauten Hocker mit Fahrradsattel, Lenkstange und Pedalen. Sieht er fern, ist es dasselbe. Wie ein echter Cowboy fühlt sich Timoner im Sattel wohler als auf einem Sofakissen.

Der Rentner mit dem weißen Haarkranz, den blitzenden Augen und einem strahlenden Lächeln tritt noch immer täglich bis zu drei Stunden und mehr in die Pedale. Oft auf seinen Heimgeräten, an den Wochenenden aber auch auf einem richtigen Fahrrad. Dann werden über die Dörfer seiner Heimatinsel bis zu 100 Kilometer abgerissen. „Ich fahre gerne mit jungen Leuten. Und die können halt nur Samstag und Sonntag, weil sie unter der Woche arbeiten müssen.

509 Meter hoch strebt der Hausberg von Felanitx östlich des Dorfes in den Himmel. Der höchste Gipfel der Region wird gekrönt von einem Klosterbau aus dem 18. Jahrhundert. Doch schon im 15. Jahrhundert wurde dort, in einer mittelalterlichen Kapelle, die Heilige Jungfrau von Sant Salvador verehrt.

Wenige Fußminuten vom Kloster entfernt thront jenseits des Parkplatzes eine gigantische Christusstatue auf einem wuchtigem Rundbau mit Art-déco-Elementen, errichtet 1934. An dem Heiland, der segnend die Hand hebt, verfangen sich vorbeiziehende Wolken, während der Wind die umliegenden Kiefernwälder wie mit Meeresrauschen erfüllt. Der Weitblick über die Insel, die in der Tiefe scheinbar zu Füßen liegt, ist ebenso berauschend wie die würzige Luft auf dem Felsplateau. Schon in Urzeiten muss dieser steil aufragende Berg den Menschen wie ein Heiligtum der Natur vorgekommen sein.

Guillermo Timoner erinnert sich noch gut, wie er als Kind mit seinen Freunden den Berg erklomm und unweit des Klosters Freizeiten verbrachte. Schon damals war er mit seinem Fahrrad wie verwachsen. Bereits 1929, mit drei Jahren fuhr er auf seinem Dreirad den Erwachsenen zwischen den Beinen herum. Der Aufstieg aufs Zweirad war nur eine Frage des Tempos. Mit 13 Jahren gewann Timoner sein erstes Radrennen, von Felanitx in den Nachbarort S'Horta. Der Erfolg bildete den Auftakt zu mehr als 1500 Siegen, die der Profisportler in sechs Jahrzehnten einfuhr, darunter ein halbes Dutzend Weltmeister-Triumphe in der Bahnradsport-Disziplin Steherrennen.

Die Heilige Jungfrau von Sant Salvador ist eine gotische Schönheit, knapp einen Meter hoch. Grau und steinern, aber mit mildem Mona-Lisa-Lächeln, ist die Skulptur der Inbegriff der Anbetung in dem Kloster. Zwei, drei Generationen ist es her, da trat ein Junge vor das Marienbild und versprach, der Jungfrau zum Dank das Siegertrikot zu schenken, sollte er mit ihrer Hilfe jemals Radweltmeister werden. „Ich habe damals selbst nicht daran geglaubt, es je schaffen zu können”, verrät Timoner in seinem musealen Arbeitszimmer, das bis in den letzten Winkel mit Pokalen, Fotoalben, Zeitungsausschnitten, Urkunden und Reminiszenzen angefüllt ist.

Timoner hat stets Wort gehalten. Sechsmal kniff ihn die Jungfrau von Sant Salvador mit ihrer himmlischen Kraft in die Waden, sechsmal wurde er Champion, sechsmal überreichte er dem Abbild der Muttergottes das jeweilige Regenbogen-Trikot seines Sieges. Schon beim ersten Triumph, 1955 in Mailand, dachte sich Timoner, noch auf dem Siegertreppchen: „Das ist nicht meins, das ist ihres...”. Feierlich stieg er nach jedem weiteren Sieg – 1959 Amsterdam, 1960 Leipzig, 1962 Mailand, 1964 Paris, 1965 San Sebastián – zum Kloster auf und erfüllte sein Gelübde. Und dann waren es die Kirchenherren, die ihn baten, die Trikots aushängen zu dürfen, so wie sie heute noch zu sehen sind.

Wie das Kloster Sant Salvador ist auch Timoner eine mallorquinische Institution. In Felanitx ist eine Straße nach ihm benannt, das neue Sportzentrum ebenso. Über 4000 Einwohner sprachen sich mit ihrer Unterschrift dafür aus. In der Welt des Radsports ist der mallorquinische Radler unvergessen. Auf seinem Tisch liegt eine Einladung nach Chemnitz für Sommer 2010, in Gedenken an seinen Sieg von 1960 im damaligen Karl-Marx-Stadt. Doch der 83-Jährige ist noch nicht entschieden, die Koffer zu packen. „Ich war mein ganzes Leben auf Achse. Jetzt bin ich froh, einfach nur in Felanitx zu sein.”