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Samstag, 1. April 1944: Kurz nach Mitternacht schreiten die vier Wehrmachtssoldaten über das Rollfeld ihres Einsatzflughafens Istres bei Marseille und nähern sich ihrem Kampfbomber. Der Einsatzbefehl lautet: Angriff auf alliierten Geleitzug bei Kap Ténès an der algerischen Nordküste. Ein gewaltiger Schiffskonvoi ist im Mittelmeer nach Osten unterwegs, um die britischen und amerikanischen Truppen zu verstärken, die in Italien südlich vor Rom stehen.

Die vier Angehörigen der 6. Staffel des Kampfgeschwaders 100 klettern in ihr Kriegsflugzeug, das im Soldatenjargon nur „die schwangere Wanze” genannt wird. In den Rumpf der Maschine mit der hängebauchartigen Vergrößerung gehen bis zu 2'5 Tonnen Bomben hinein. Mit dröhnenden Motoren hebt der Bomber in den nachtschwarzen Himmel ab.

Für das im Vorjahr gebaute Kriegsflugzeug, Typ Dornier DO 217 E 5 mit der Werknummer 5403, wird es der letzte Kriegseinsatz sein: Bereits über Mallorca, etwa auf halber Strecke der 800 Kilometer langen Flugroute zum Gegner, hat der Pilot mit schweren technischen Mängeln an der Maschine zu kämpfen. Dann fällt ein Motor aus. Südlich von Mallorca müssen die Besatzungsmitglieder einer nach dem anderen mit dem Fallschirm über dem Meer abspringen. Der Pilot geht als letzter von Bord. In der stockdunklen Nacht sieht er einzig das Signal des Leuchtturms Punta Enciola an der Südküste der kleinen Felseninsel Cabrera kurz aufblitzen. Noch am Fallschirm hängend verschießt er Leuchtmunition, um auf die Notlage aufmerksam zu machen.

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Juli 2001: Zum Greifen nah scheint Cabrera vor Mallorcas Südküste auf dem blauen Samt des Meeres zu schweben. Vor nunmehr zehn Jahren ist die Inselgruppe wegen ihrer einmaligen Schönheit zum Nationalpark erklärt und unter Naturschutz gestellt worden. In den Sommermonaten dürfen täglich nicht mehr als 200 Besucher das Eiland betreten, die Schiffspassage von Colònia de Sant Jordi dauert immerhin 70 Minuten. Falls die Tagesausflügler nicht gleich in der kristallklaren Badebucht Abkühlung suchen, ersteigen sie das einsame Kastell aus dem 14. Jahrhundert, das in schwindelnder Höhe mit dem steinernen Abschluss des Gipfelkamms wie verwachsen ist.

Die Mitarbeiter der Naturpark-Verwaltung warten den Interessierten in dem alten Gemäuer mit schaurigen Anekdoten auf. In den vergangenen Jahrhunderten wurden die Wachmannschaften der kleinen Trutzburg wiederholt von maurischen Piraten niedergemetzelt. Von 1809 an fristeten über 9000 französische Kriegsgefangene der geschlagenen napoleonischen Armee ein beklagenswertes Dasein auf dem kargen Felsen im Meer. Das Trinkwasser reichte bei weitem nicht aus, vor dem einzigen Brunnen in einer Berggrotte standen die Geschundenen tagelang Schlange, Tausende gingen an Krankheit und Hunger zugrunde und dienten noch im Tod manchen ihrer Kameraden als Nahrung. 1814 konnte die französische Regierung nach Friedensschluss nur noch rund 3600 Kriegsgefangene nach Hause holen.

Doch ungeachtet all der unglückseligen Toten wird das Kastell von einem anderen Gespenst heimgesucht, munkeln die Touristenführer: Ein deutscher Jagdpilot aus dem Zweiten Weltkrieg soll in stürmischen Nächten wehklagend durch die Katakomben der Burg wandeln. Sein Grab befand sich einst auf dem winzigen Friedhof am Fuße der Burg. Auf dem Gottesacker soll außer dem Flieger lediglich ein mallorquinischer Fischer geruht haben. Als die Angehörigen des Soldaten später einmal seine Gebeine nach Deutschland überführten, hätten sie fälschlicherweise anstelle des Gefallenen die Überreste des Fischers mitgenommen. Aus diesem Grunde spuke der Pilot ruhelos durch das Gemäuer.

Ein Wehrmachtspilot, begraben auf Cabrera? Wann und wie soll er ums Leben gekommen sein? Ratlos zucken die Führer mit den Schultern. „Irgendwann im Krieg. Seine Maschine stürzte ins Meer. Er kam aus Libyen oder so...” Der verlassene Friedhof selbst kann heute keine Auskünfte mehr geben. Durch das Eisengitter der schmalen Pforte lässt sich das Geviert aus Trockensteinmauern in der flirrenden Sonnenglut auf einen Blick erfassen. Kein Kreuz, kein Grabstein, kein einziger Grabhügel ist auf dem steinigen Erdreich auszumachen. Die meisten Besucher gehen achtlos an dem abseits liegenden Inselfriedhof vorbei.

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„Der Name des gefallenen Deutschen?” Der technische Leiter des Naturparks, Josep Amengual, durchstöbert die Bibliothek des Cabrera-Verwaltungsbüros an der Plaça de Espanya in Palma. Schließlich zieht er ein gelbes Büchlein des spanischen Literaten und Dichters Carlos Garrido aus einem Aktenschrank. Der Autor, der über jede Baleareninsel einen sensiblen Kulturführer verfasst hat, griff in „Cabrera Mágica (1991)” die Legende vom „Haupt-Gespenst” der Insel auf: „Vorsicht vor dem deutschen Flieger, der nachts umgeht”, warnt ein Kapitel.

Im April 1944, so schreibt Garrido auf Seite 72, wurde der Pilot Joannes Bochler mit seiner Messerschmitt Me 109 über dem Meer abgeschossen. Nach der Bergung der Leiche wurde Bochler auf dem kleinen Friedhof begraben. Zu jener Zeit waren auf der Insel neben einer Handvoll Zivilisten lediglich eine Einheit spanischer Soldaten auf Cabrera stationiert. Die Insel war von 1916 bis 1991 militärisches Sperrgebiet.

Nach der mündlichen Überlieferung jener Soldaten soll der alliierte Pilot, der Bochler abschoss, noch lange Zeit einmal im Jahr als Zeichen der Versöhnung Blumen auf das Grab niedergelegt haben. 1982 wurde der Tote, so schreibt Garrido, auf den deutschen Soldatenfriedhof nach Yuste (drei Autostunden südwestlich von Madrid) umgebettet.

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Joannes Bochler? Johannes Bockler? „Wir haben einen Johannes Böckler”, sagt der Pressereferent des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Fritz Kirchmeier. Die humanitäre Organisation mit Sitz in Hannover errichtete und pflegt im bundesdeutschen Auftrag über 720 Kriegsgräberstätten in 43 Staaten für die in den beiden Weltkriegen gefallenen deutschen Soldaten. Im Computer des eingetragenen Vereins sind die Daten von weit über zwei Millionen Toten gespeichert. „Allerdings”, so Kirchmeier, „kam Böckler nicht bei Cabrera ums Leben, sondern südlich von Kap Tenas. Ist das auf den Balearen?” Fehlanzeige.

Eine Woche später dann die E-Mail: „Wir hatten schon den Richtigen gefunden”, schreibt Kirchmeier, der im Volksbund-Archiv auf eine umfangreiche Handakte gestoßen ist. Seit 1953 hatten einzelne Inselbesucher auf das Vorhandensein des ungewöhnlichen Grabes hingewiesen. Aus der Akte geht hervor: Johannes Böckler, Unteroffizier, geboren am 26. Mai 1923 in Mölln, gefallen am 1. April 1944, bestattet auf Cabrera, umgebettet am 9. Juni 1982 nach Cuacos de Yuste, dem einzigen deutschen Soldatenfriedhof in Spanien. (Eine Verwechslung der Gebeine mit denen des toten Fischers ist nach Kirchmeiers Worten ausgeschlossen.) Und weiter: mit Böckler fielen zwei seiner Kameraden. Allerdings: es gab einen Überlebenden. Und dieser hat in einem langen Schreiben über die damaligen Ereignisse Zeugnis abgelegt.

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„Ich war Leutnant und Flugzeugführer, der jüngste der Besatzung”, schreibt Hans Kieffer am 27. März 1995 aus Klein-Winternheim bei Mainz an den Volksbund. Aus dem Brief gehen Details über den Einsatz, das Flugzeug und die letzten Lebensminuten der Kameraden hervor, als das Flugzeug in der Luft nicht mehr zu halten war. „Peter Brühl sprang als Erster ab.” Der 21 Jahre alte Obergefreite wurde elf Tage später tot an der Küste Mallorcas angeschwemmt. Er wurde auf dem Friedhof in Palma bestattet, allerdings existiert das Grab heute nicht mehr. In Yuste erinnert zumindest eine Namenstafel („in memoriam”) an den gebürtigen Mainzer.

„Von Richard Weise fanden wir nur den Fallschirm auf dem Wasser.” Er habe ihn wohl zu früh gelöst und sei „im Wasser aufgeschlagen und versunken”, vermutete Kieffer. Der 27 Jahre alte Unteroffizier aus Rumsdorf (Sachsen-Anhalt) wird seitdem in den Akten mit dem Vermerk „Seemannsgrab” geführt.

Johannes Böckler wurde von einem spanischen Fischerboot, das zuvor den Piloten Hans Kieffer aus dem Meer gezogen hatte, „nach elf Stunden mit aufgeblasener Schwimmweste neben einem halb aufgeblasenen Schlauchboot tot im Wasser” gefunden. Hans Kieffer war dabei, als sein knapp 21 Jahre alter Kamerad bestattet wurde. „Es war ein würdiges Begräbnis mit militärischen Ehren. Eine spanische Einheit war auf Cabrera stationiert, sie hat mich betreut, ihr Einheitsgeistlicher begleitete die Beerdigung. Später hat er mir auch das Zigarettendrehen beigebracht, obwohl er selbst nicht rauchte.”

Die Ursache für den Absturz glaubt Kieffer Jahrzehnte später in einem Buch des Luftkrieg-Autors Ulf Balke erfahren zu haben (Kampfgeschwader 100 „Wiking”, Stuttgart 1984), wie er weiter in dem Brief schreibt. Damit die Maschinen vom Typ DO 217 nachts nicht wegen ihrer verräterisch langen Auspuffflammen zu entdecken waren, wurden auf die Auspufftöpfe der Motoren so genannte „Flammenvernichter” montiert. Dabei handelte es sich um ein Rohr mit eingeschweißtem Sieb. Die Flammen wurden dadurch zwar zurückgehalten, aber, wie sich in der Praxis herausstellte, hatten die Motoren durch den Stau weniger Leistung und überhitzten, was letztlich zu Abstürzen führte.

Die Flammenvernichter hält die Leiterin des historischen Archivs der Dornier GmbH in Friedrichshafen, Edelgard Piroth, als Absturzursache für „möglich”, auch wenn sich dies nicht „eindeutig” bestätigen lasse. Von einem „generellen Design-Fehler” lasse sich nach Erfahrungen mit anderen Flugzeugtypen nicht sprechen. „Zudem ist zu beachten, dass die Triebwerke zu jener Zeit bei weitem nicht so zuverlässig arbeiteten, so dass auch ein Triebwerksausfall in Betracht kommt.”

Der Pilot Hans Kieffer wurde über Barcelona nach Madrid gebracht. Nach mehrwöchigem Aufenthalt in Spanien kehrte er zu seiner Einheit nach Frankreich zurück. Nach dem Krieg machte Kieffer als Journalist Karriere beim Südwestfunk. Ein Versuch, die Gräber seiner Kameraden im Februar 1995 aufzusuchen – die Umbettung Böcklers war ihm nicht bekannt –, verlief ergebnislos. Unter anderem tauchte ein Mittelsmann des Konsulats in Palma nicht zum vereinbarten Treffen auf. Kieffer verließ Mallorca unverrichteter Dinge. Vor einem halben Jahr starb der Mann. Die Witwe genehmigte MM die Einsicht in den Brief.

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Zurück zu dem Toten auf Cabrera. Der Möllner Heimat-Historiker Alfred Flögel bedauert: „Ein Johannes Böckler ist standesamtlich hier weder geboren noch bei den Altersgenossen bekannt.” Doch dann weiß Flögel Rat. „Es gibt noch ein Mölln auf Rügen und eins bei Marburg. Versuchen Sie es dort.”

Der Ortsvorsteher von Heskem-Mölln in Hessen, Bruno Weimer, schaltet sofort: „Johannes Böckler? Ja, ich bin mit seinem Bruder befreundet.”

Die Verbindung zu Heinrich Böckler, Jahrgang '33, und seiner Frau Christa kommt zu Stande. „Ja, mein Bruder war ein stolzer Flieger. Ich glaube, er wollte scheinbar was erleben. Er ist als Bordfunker abgestürzt.” Johannes Böckler befand sich 1944 kurz vor seinem Heimaturlaub, wollte seine schwangere Freundin heiraten. Nach seinem Tod wurde die Kriegstrauung vollzogen. Sein Sohn, der ebenfalls Johannes Böckler heißt, lebt heute in Kanada. Die Mutter, Maria Böckler, wird im nächsten Jahr 80.

„Johannes Böckler ist uns noch gut im Gedächtnis”, sagt Schwägerin Christa. Schon allein durch die Deutschland-Besuche seines Sohnes, der eine zeitlang beim Ehepaar aufwuchs, werde die Erinnerung an den Gefallenen wachgehalten, sagt Christa, die ihren Schwager nie kennengelernt hat. Am Grab auf Cabrera oder in Yuste waren sie nie. „Wir sind keine Flugzeug-Flieger.”

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PS: Der Verbleib der abgestürzten DO 217, laut Kieffer drei bis fünf Kilometer südlich vom Cabrera-Leuchtturm Punta Enciola, ist ungeklärt. Alles spricht dafür, dass die Maschine nie gehoben wurde. Eine Antwort der Marineleitung der Balearen stand bis Redaktionsschluss aus.