Fräulein Kerner – sie besteht trotz ihrer 83 Jahre auf dieser
Anrede – hat viel Zeit. Familie gibt es nicht mehr, Kinder hat sie
niemals gehabt. Der einst große Freundeskreis wurde im Laufe der
letzten Jahre immer kleiner. Fräulein Kerner ist viel allein.
Mit den wenigen noch verbliebenen Freunden hält sie ganz bewusst
engen Kontakt. Das Telefon mag sie nicht besonders. Schließlich
darf man mit 83 Jahren auch ein bisschen schwerhörig sein. Also
schreibt Fräulein Kerner Briefe. Und macht es zum Ritual. Steht ein
Brief an, fährt sie in die Stadt, um Briefpapier zu besorgen. Sie
kennt die Läden, die besonders schönes Papier, manchmal sogar
handgeschöpft, führen. Sie wählt sorgfältig aus, auf die Person,
auf den Anlass abgestimmt. Dann geht sie noch in ein Café, um der
Angelegenheit einen angemessenen Abschluss zu geben. Und sie hat
das Gefühl, dass ihr Tagwerk vollbracht ist. Am nächsten Tag
bereitet sie ihren Schreibtisch vor, kauft möglicherweise noch ein
paar frische Blumen für die Vase. Dann schreibt sie. Mit
abgemessenen Bewegungen. Mit sorgfältiger Handschrift. Mit langen
Pausen zum Nachden- ken. Fräulein Kerner teilt nicht nur die
wichtigsten Ereignisse mit, sondern auch ihre Gedanken,
Reflektionen. Sie sagt ihre Meinung und wünscht einen
entsprechenden Kommentar ihres Briefpartners.
Dann wird der Briefumschlag sorgfältig beschriftet. Fräulein
Kerner geht zur Post, kauft eine Marke, steckt den Brief in den
Kasten. Dann seufzt sie und stellt sich vor, wie ihr Brief viele
tausend Kilometer reist, wie er ankommt, wie er aufgerissen und
gelesen wird. Von diesem Augenblick an wartet sie auf Antwort.
,,Mein Leben hat sich verändert, seit es E–Mail gibt”, sagt meine
Freundin Sabine. Sie ist knapp fünfzig Jahre jünger als Fräulein
Kerner und stürzt jeden Abend, wenn sie nach Hause kommt, an den
Computer. Erscheint keine E–Mail auf dem Bildschirm, ist für sie
der Tag gelaufen. ,,Ich antworte immer”, sagt sie, ,,es ist
praktisch, schnell und bequem. Und irgendwie ist man doch mit denen
verbunden, die weit weg sind.” In Düsseldorf findet im März ein
SMS–Literaturwettbewerb statt. Die einzelnen Beiträge dürfen 160
Zeichen nicht überschreiten. Als ich Fräulein Kerner davon
erzählte, schwieg sie lange. Dann sagte sie: ,,Immerhin kann man
32mal das Wort Liebe schreiben.”
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