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Ein zwölf Quadratmeter großes Häuschen auf einer Anhöhe vor Artà, das ist das Reich von Guillem Cassellas, dem letzten Llatra-Meister Mallorcas. Llatra heißt die alte kunsthandwerkliche Tradition des Korbflechtens aus den Blättern der mallorquinischen Zwergpalme Garballó.

In der Ecke steht ein kleiner Holzofen, auf dem Boden liegen getrocknete Palmenblätter, links und rechts stapeln sich Flechtkörbe, Taschen, Schalen und Hüte. Dazwischen sitzt der Meister auf einem Hocker. Ohne für einen Moment seine Arbeit zu unterbrechen, erzählt er. Fast sieht es aus, als spiele er ein Zupf-Instrument, so leicht und flink bewegen sich seine Finger, während sie schmale Palmblätter zu "Trenzas" flechten. Das sind zirka vier Zentimeter breite Zöpfe oder Bänder. Sie stellen die Basis für alle Flechtprodukte dar. "Ich mache es gerne, aber es ist Sklavenarbeit", meint Cassellas. Oft fange er um 6 Uhr morgens an und selbst abends beim Fernsehen flechte er Trenzas.

Der 51-Jährige ist mit der Llatra aufgewachsen. Seine Großmütter und die Mutter flochten zu Hause und der Vater half nach der Arbeit mit. Nach der Schule habe er immer zwei Armlängen Trenzas machen müssen. "Erst dann durfte ich Hausaufgaben machen." Das sei in Artà üblich gewesen. Artà und Capdepera waren einst die Hochburgen der Palmblattflechterei auf Mallorca, denn in der Gegend wächst besonders viel Garballó und für die Landwirtschaft gibt der karge Boden nicht viel her. Im 19. Jahrhundert blühte die Llatra oder Llata, wie es in Capdepera heißt. Ware wurde exportiert. Bis zum Aufkommen des Tourismus in den 1970er Jahren lebten hier viele Menschen davon. Die Körbe, die man heute auf Mallorcas Märkten kaufen kann, kommen größtenteils aus Marokko.

Auch Guillem Cassellas arbeitete lange im Tourismus, nur im Winter flocht er weiter als Hobby, bis er sich vor gut zehn Jahren entschied, gegen den Strom zu schwimmen. Er machte seinen Meister und hängte den Tourismusjob an den Nagel. Erst verkaufte er auf Märkten. Heute produziert er ausschließlich für Geschäfte. Wenn er auf dem Markt stehe, könne er nicht arbeiten, meint er. Die Llata sei sehr zeitaufwendig. Es beginne mit der Ernte der Palmblätter im Hochsommer, von Mitte Juni bis Ende Juli. Der Garballó stehe unter Schutz, aber er habe eine Genehmigung dafür. "Mit einer Zange schneide ich Palmwedel aus den Pflanzen heraus, etwa 20 Kilogramm pro Tag. Die Wedel liegen erst ein paar Tage im Schatten, damit das ,Blut' herausgeht, ihre Kraft. Dann trocknen sie 21 Tage in der Sonne. Und danach kommen sie zwölf Tage in den Schwefelofen. Schwefel macht die Blätter heller und elastischer."

In der Werkstatt werden die Blätter abgetrennt und zugeschnitten. Erst jetzt kann das Flechten der Trenzas beginnen. 25 verschiedene Techniken kennt der Meister. Manchmal flechtet er nur fünf Blätter zusammen, dann wieder bis zu zwölf. Die fertigen Bänder legt er nebeneinander und näht sie mit einer langen Nadel zusammen. Die Nähtechnik ergibt die Form. "Zwei Stiche oben, einen Stich unten, zwei oben, zwei unten, jetzt ziehen und schon wird der Korb rund", erklärt Cassellas und lacht. Viele Körbe bestickt er mit Blumenmustern oder verziert sie mit gefärbten Palmblättern.

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Cassellas fertigt viel nach Auftrag an. Die Kunden seien sehr fordernd, meint er. Aber es motiviere ihn zu experimentieren und Neues zu schaffen. Von Kinderwiegen über Lampenschirme bis zu eleganten Umhängetaschen, die Möglichkeiten seien fast unbegrenzt. Auch ins Ausland verkauft der Meister, vor allem nach Frankreich und Norwegen: "Die Franzosen mögen eckige Formen. Die Norweger lieben Sitzpuffs gefüllt mit Stroh." Das Geschäft laufe gut.

In Capdepera halten derweil sechs rüstige Rentnerinnen das Kunsthandwerk am Leben. Man nennt sie "Ses Madones de sa Llata", die Flechtdamen. Jeden Nachmittag treffen sie sich in einem ehemaligen Frisörsalon. Das ist kein Kaffeestündchen. Hier wird gearbeitet. Auftragsarbeit. Viel komme nicht dabei heraus, meint Margarita Tous, ein kleines Zusatzeinkommen sei es, um den Kindern zu helfen. Einige der Damen flochten schon in den 1950er und 1960er Jahren in Ateliers. "Bis der Tourismus kam", sagt Margarita Blanes. Die Importware, die heute auf der Insel angeboten werde, habe keinen Wert: "Was wir machen, hält 100 Jahre." Nur feucht dürfe es nicht werden. Auch die Damen schauen kaum auf, wenn sie erzählen. Ohne Unterlass flechten sie. Natürlich ermüde das, aber es sei auch ein gutes Mittel gegen ihre Arthritis in den Händen, sagt Margarita Blanes und zwinkert mit den Augen. Seit 2000 trifft sich die Gruppe. Anfangs waren es über zehn Damen. Manche leben nicht mehr.

Aber aussterben wird die Llata noch nicht, denn da ist noch Ignasi Cassellas, der 18-jährige Sohn des Meisters aus Artà. Vor einem Jahr entschloss sich der Junge, Flechter zu werden. Eigentlich wollte er Biochemie studieren, aber als man ihm sagte, dass er damit auf der Insel keine Arbeit finden würde, schwenkte er um: "Mallorca zu verlassen kommt für mich nicht in Frage, und das Flechten macht mir Spaß."

MUSEUM IN CAPDEPERA

In der Burg von Capdepera, einer der größten Festungsanlagen Mallorcas, befindet sich das "Museo de sa llata" mit vielen Informationen und Ausstellungsstücken aus der Geschichte der Palmblattflechterei. Jeden Mittwoch von 9 bis 13 Uhr wird das alte Kunsthandwerk hier auch vorgeführt. Öffnungszeiten im Winter: täglich von 9 bis 17 Uhr. 25. Dezember, 1. Januar und 6. Januar geschlossen. Eintritt: 3 Euro.. Telefon: 971-818746, www.castellcapdepera.com

(aus MM 53/2016)