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Für die allermeisten ist der "Camí de Raiguer" schlicht eine winzige Landstraße, die durch die wundervolle Landschaft an den Dörfern Santa Maria, Consell, Alaró und Binissalem vorbeiführt. Die asphaltierte Trasse ist so schmal, dass keine zwei Autos aneinander vorbeipassen. Wer hier, bevorzugt mit dem Rad, vorbeikommt, sieht Trockensteinmauern, Oliven-, Johannisbrot- und Mandelplantagen, Felder mit Rindern, versteckt liegende Landhäuser im Windschatten der Tramuntana, kurz, ein Mallorca wie aus dem Bilderbuch.

Für Antoni Borràs ist der Pfad im Rücken der genannten Dörfer viel mehr: Er sieht in dem Landweg die Hauptachse der Landvermessung, wie sie einst von den Römern festgelegt und entsprechend genutzt wurde. Um diesen Standpunkt zu belegen, muss der Architekt und promovierte Geograf eine wahre Vorlesung in Landmessung halten. Um da mitzukommen, muss man sich schon zu den Schülern Platons zählen. Der griechische Philosoph, so ist überliefert, hatte über den Eingang seiner Lehranstalt schreiben lassen: Es möge niemand Einlass begehren, der von Geometrie keine Ahnung habe.

Fest steht, dass die alten Römer, wo immer sie in der Antike ihre Herrschaft errichteten, unverzüglich das Land zu messen und in gleiche Raumflächen einzuteilen pflegten. Sie bedienten sich hierfür Parametern und Kriterien, die sie den alten Etruskern abgeschaut hatten. Diese wussten bereits entsprechend der Sonnenauf- und -untergänge Ost-West-Achsen und entsprechend Nord-Süd-Achsen zu ermitteln.

Anhand dieser "Decumanus" und "Cardo" genannten Achsen legten die Römer rechtwinklige Raster an, die regelmäßige Abstände aufwiesen. In diese netzartige Aufteilung integrierten sie wiederum hexagonale (sechseckige oder wabenförmige) Raster, so dass es in beiden Strukturen zu regelmäßigen Überschneidungen kam. Manche dieser Schnittpunkte waren von besonderer Bedeutung: Sie dienten der Markierung und Berechnung der neugewonnenen Landflächen.

"Dass dies ehemals aus religiösen Motiven geschah, ist Hokuspokus", sagt Borràs. Vielmehr verfolgten die damaligen Eroberer der Insel (und des gesamten Mittelmeerraumes) das Ziel, die Landmassen zu zählen und zu "Zenturien" zu parzellieren. "Es ging um die Ausbeutung und um die Besteuerung des Landes." Mit den Zenturien wurden die Veteranen der römischen Legion bedacht, später mussten die Landbesitzer entsprechend der Flächen Tribute zahlen, damit Rom seinen gewaltigen Militär- und Staatsapparat finanzieren konnte.

Als Borràs nach acht Jahren Forschungsarbeit das System der Römer nachvollzogen hatte, konnte er anhand des hypothetischen Flächennetzes immer neue Hinweise auf die römische Vergangenheit der Insel finden. So sind viele Orte und Straßenverbindungen von heute auf Grundlage des alten Wege- und Markierungsnetzes der Römer entstanden. Damit lassen sich selbst überraschend anmutende 30- und 60- Grad-Winkel bei den tradierten Landstraßen der Insel plausibel machen.

So ergibt sich für Borràs eine landschaftliche Planung der Insel, die den strengen Vorgaben der römischen Landvermessung folgt. Die Hauptachse, an der sich die damaligen Reichsvermesser ausrichteten, zog sich von Pollentia, dem heutigen Alcúdia, bis zum heutigen Santa Ponça längs. Palma selbst war für die Römer kein Ort von Bedeutung, sagt Borràs.

Er glaubt, die Wissenschaft sitzt seit Jahrhunderten einem Irrtum auf: Das eigentliche "Palma", das der antike Historiker und Gelehrte Plinius in seinem Werk aufführt, sei nicht in der heutigen Balearen-Metropole zu suchen, sondern im Raum Ses Salines, unweit der heutigen Finca Sa Vall.

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Nach Borràs Worten gehen einige Landverbindungen direkt auf die römische Raumplanung zurück. Hierzu zählt er etwa die Landstraße von Inca nach Sineu. Im Süden der Insel liegt der Camí des Palmer auf der Linie der alten Römerstraße, im Norden folgt die alte Landstraße von Binissalem bis nach Alcúdia exakt der antiken Längsachse.

Binissalem ist für Borràs eines des besten Belege für das Rasterschema der Römer: Die Straßenzüge verlaufen teils parallel in den damals korrekten Abständen, so etwa der Camí des Raiger und der Carrer de la Rectoria. Dort treffen zudem die Diagonalen der Straßen Carrer de Alaró und Carrer de Pere Estruch zusammen. Die objektiv gesehen kaum nachzuvollziehende Anlage der verwinkelten Straßenzüge in Binissalem liegt, so Borràs, genau in der Spur der römischen Vermessungslinien. Geometrie pur.

Hinzu kommen Belege, in Stein und Mörtel, die die Thesen des Forschers stützen: Im Raum Santa Maria und Binissalem sind noch Abschnitte von alten Römerstraßen zu finden, die Pflastersteine weisen in ihrer Anordnung die antiken Entfernungseinheiten an.

"Früher empfand ich Mallorca als völlig ungeordnet", erzählt Borràs. Erst durch das Durchdringen der römischen Einteilungen wurde ihm klar, warum die Insel sich zu dem entwickelte, wie sie heute ist. "Das macht alles Sinn." Und Borràs macht sich dafür stark, die Erkenntnisse stärker zu nutzen, etwa als Anreiz für kulturtouristische Bildungs- und Studienreisen.

Die römische Raumeinteilung geriet im Mittelalter in Vergessenheit, bedauert Borràs. Die Kirche half dabei gehörig nach. Auf diese Weise wurden auch römische Kultstätten und Markierung assimiliert und umgewidmet.

Die heutigen Stadt- und Raumplanungen widersprechen dem Forscher zufolge vollkommen den damaligen Rasterlinien. "Wir können die heutigen Straßenbauten und Planungen nur noch als räumliche Destrukturierung bezeichnen."

Angesichts dieser Entwicklung ist es geradezu ein Wunder, dass der heutige Camí des Raiguer als ehemalige Hauptachse und schmaler Überlandweg erhalten geblieben ist. Andere Römerstraßen in Europa sind heute zum Teil nur noch gesichtslose Autobahn-trassen. Wer also auf der winzigen Landstraße längsradelt, sollte der einstigen Planer dankend gedenken.

INFO

Weitere Infos zu den Forschungen von Antoni Borràs finden Sie auf seinem Blog unter http://romanmallorca.wordpress.com